Das grosse Warum

Theologie

Der Karfreitag und Ostern erinnern an Tod und Auferstehung Christi. Theologinnen und Theologen beantworten für «reformiert.» Fragen, welche die biblische Überlieferung aufwerfen. 

War Judas schuld, dass Jesus gekreuzigt wurde?

Nein, lautet die kurze Antwort. Ich denke: Schuld am Tod Jesu war die römische Besatzungsmacht in Jerusalem. Denn von ihr wurde Jesus ohne viel Aufhebens hingerichtet. Vermutlich gab es nicht einmal einen  Prozess und eine Verurteilung.  In der christlichen Imagination jedoch wird die Schuld des Judas bis heute in Szene gesetzt. Jedes Jahr in der Passionszeit tritt Judas wieder auf, um Jesus für 30 Silberstücke zu verraten. In Kinderbibeln und modernen Passionsspielen schleicht er sich an, steht plötzlich da im Garten Gethsemane, schlingt seinen Arm um Jesus und küsst ihn. 

Der Judaskuss: ein Bild des Verrats, das sich tief in unser kulturelles Gedächtnis eingegraben hat. In der bildenden Kunst wurde die unheimliche Szene schon hundertfach gemalt. Auf Fresken und Gemälden sieht man den Mund von Judas auf Jesu Wange. Auf manchen Bildern sehen sich die beiden Männer direkt in die Augen. Was sehen sie jeweils im Blick des anderen? Was tust du da? Wer bist du? 

Was wäre, wenn sich Judas erklären könnte? Ich erinnere mich an die 1980er-Jahre, als der Figur des Judas neue Aufmerksamkeit geschenkt wurde. In Romanen und Filmen, in Theaterstücken, aber auch in vielen Predigten trat Judas überraschend aus der angestammten Rolle und neu auf die Bühne.   

Auch wir Jugendlichen beschäftigten uns damals mit der Figur des Judas. In der Kinderkirche hatte man uns das Bild des habgierigen Verräters eingebläut: eine gierige Hand greift nach 30 Silberstücken. Doch jetzt waren wir keine Kinder mehr, wir waren Teenager und konnten selber denken. Judas, so schien uns, war der interessanteste der Jesus-Jünger. Er lief Jesus nicht einfach hinterher, plapperte nicht nur nach, was er hörte. Auch er konnte selber denken. Stundenlang diskutierten wir darüber im Jugendkeller unserer Kirche.   

Vielleicht hatten Jesus und Judas alles im Vornherein abgemacht. Jemand musste Jesus schliesslich verraten, oder? Wenn Jesus gekreuzigt werden musste, dann war der Verrat doch eigentlich notwendig. Vielleicht war Judas derjenige Jünger, dem Jesus am ehesten zutraute, diesen schweren Schritt zu tun. Ohne Judas keine Verhaftung und keine Kreuzigung, keine Erlösung.   

Vielleicht war Judas aber auch jemand, dem es wirklich um die Sache ging. Die Römer besetzten das Land. Judas war dann vermutlich derjenige, der sich am meisten dafür einsetzte, dass die Ausbeutung ein Ende nahm, dass der verarmten Bevölkerung geholfen wurde. So mach doch was, Jesus, tu endlich was, gleich wirst du verhaftet, zeig, wer du bist, ruf sie herbei, deine Engel oder wen auch immer, damit sich endlich etwas verändert! Und dann? Judas muss absolut am Boden zerstört gewesen sein, als sich Jesus einfach abführen liess. 

Heute denke ich an die Debatten von damals und finde sie nach wie vor wichtig. Nicht zuletzt deswegen, weil sie den antijüdischen Konnotationen widerstehen, welche die Figur von Judas in der christlichen Tradition angenommen hat.   Judas, der gierig nach den 30 Silberstücken greift, ist nicht zu vergessen eines der gefährlichen Stereotype, die sich durch die Jahrhunderte zogen. 

Das Bild von Judas, dem Verräter, wurde in der Zeit des Nationalsozialismus eifrig bedient und schürt den Judenhass bis heute. Gut, wenn wir diesem Bild widerstehen. Oder um die Frage noch einmal auf eine historische Ebene zu holen: Nein, schuld war nicht Judas. Es war vielmehr die römische Besatzungsmacht in Jerusalem. 

Tania Oldenhage

Tania Oldenhage

Die feministische Theologin ist Privatdozentin für Neues Testament und seine Wirkungsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Basel und Pfarrerin der Reformierten Kirche Zürich. Seit sechs Jahren ist sie auch Radiopredigerin bei SRF. 2013 habilitierte sie zum Thema «Neutestamentliche Passionsgeschichten nach der Shoah».

Hat sich Jesus für die Menschen geopfert?

«Du Opfer!» So hört man es – mal scherzhaft und mal weniger scherzhaft – auf den Schulhöfen. 

«Du Opfer!» Gilt das auch für Jesus? Warum musste Jesus sterben? Das haben sich die frühen Christinnen und Christen auch gefragt. Und offenbar ist die Antwort nicht so klar, wie es vielleicht scheinen mag.   Das Neue Testament macht hier unterschiedliche Deutungsangebote, die freilich alle ineinandergreifen. Versöhnung ist eines davon. Ursprünglich ein politischer Begriff, meint Versöhnung die Wiederherstellung und Heilung von Beziehungen, zwischen Staaten, zwischen Menschen und nun auch zwischen Gott und den Menschen.

Jesu Tod wurde aber auch im kultischen Rahmen gedeutet. Der Hebräerbrief weist Jesus klar als Opfer aus und durchbricht die Metapher sofort wieder, indem Jesus zugleich als Hohepriester bezeichnet wird.

Auch Paulus’ Bezeichnung von Jesus als Hilasterion fällt in diesen Kontext. Das Hilasterion war die goldene Deckplatte der Bundeslade im Allerheiligsten des Tempels und wurde am Versöhnungstag mit dem Blut des Opfertieres besprengt, um die Sünden des Volkes zu sühnen.   Hier wird also eine Parallele zwischen dem Sühneopfer im Alten Testament und dem Kreuzestod Jesu gezogen – wobei Jesus gerade nicht mit dem Opferblut identifiziert wird, sondern mit dem Deckel der Lade, das heisst mit dem Ort der dichtesten Gottesgegenwart.

Neben den Sühnegedanken tritt die Deutung des Todes Jesu als Stellvertretung. «Der du trägst die Sünd’ der Welt»: So hat es Johann Sebastian Bach dem kollektiven christlichen Gedächtnis in seiner Matthäuspassion eingeschrieben.   So anstössig der Glaube an einen heruntergekommenen, gekreuzigten Gott für die griechische und römische Welt war, so sehr provoziert er durch die Theologiegeschichte bis heute. Kant etwa wehrte sich dagegen, dass Sündenschuld überhaupt von anderen übernommen werden könnte, sei sie doch «keine transmissible Verbindlichkeit». 

Heute stört man sich am Sündenbegriff an sich. Zugleich fordert man «notwendige Abschiede» von einem offenbar sadistischen Gott, der tatenlos zusieht, wie sein Sohn zu Tode gefoltert wird. Oder der tatenlos dem Grauen im Sudan, im Jemen, in Gaza oder in der Ukraine zusieht.   Ich möchte einerseits das vielstimmige Zeugnis im Neuen Testament ernst nehmen, andererseits will ich den harten Fragen unserer Gegenwart nicht ausweichen.

Zwei Spuren können uns weiterführen. Jesus wurde zum Opfer im Sinne von «victim». Er ist durch das Leiden, die Hölle gegangen. «Nur der leidende Gott kann helfen.» Das schrieb Dietrich Bonhoeffer in der Todeszelle. Gott ist kein Sadist, sondern der solidarische Gott der Opfer und der Leidenden. Es ist darum am Kreuz, wo unser christliches Engagement für die Opfer dieser Welt, für Frieden, für Gerechtigkeit seinen Ursprung nimmt. 

Und Jesus wurde zum Opfer im Sinne von «sacrifice». Wer die Realität ernst nimmt, kommt an Sünde nicht vorbei. Ob er noch an Gott glauben könne, wurde Roméo Dallaire, der Kommandant der UNO-Truppen während des ruandischen Genozids war, gefragt. Seine Antwort lautete: «Ich glaube an Gott, weil ich dem Teufel die Hand geschüttelt habe.» 

In der Bibel ist es stets Gott selbst, der die Sünden des ganzen Volkes trägt. «Nach dem Neuen Testament wird Christus nicht nur zum Bruder der Opfer, sondern auch zum Sühnenden für die Täter. In dem gekreuzigten Christus ist Gott selbst das Opfer unter den Opfern», so der grosse Theologe der Hoffnung Jürgen Moltmann.

Christine Schliesser

Christine Schliesser


Seit Januar verantwortet sie den Bereich Theologie der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn. Sie ist zudem Privatdozentin für Systematische Theologie an der Universität Zürich. Zuvor war sie Studienleiterin am Zentrum Glaube und Gesellschaft der Universität Freiburg. Sie forscht auch zu Trauma und Transformation an der Universität Stellenbosch (SA). 

Weshalb hat Gott seinen Sohn nicht gerettet? 

Die Frage taucht auch in den Evangelien immer wieder auf: Hat Gott Jesus im Stich gelassen? 


Der Evangelist Lukas erzählt, wie Kleopas und ein weiterer Jünger am dritten Tag nach der Kreuzigung nach Emmaus wanderten – zu Tode betrübt. Ohne dass sie ihn erkannten, gesellte sich der Auferstandene zu ihnen. Er legte die Schrift aus: «Musste nicht der Messias all dies erleiden, um in seine Herrlichkeit zu gelangen?» (Lk 24,25 f.).

Die Botschaft ist klar: Das Kreuz war kein Schlusspunkt, sondern der Durchgang zu etwas Neuem. Alle Welt meinte, Gott habe seinen geliebten Sohn nicht gerettet. Es ist ein Drama, dessen Bedeutung man nur versteht, wenn man die Schrift liest und der Auslegung des gekreuzigten Auferweckten vertraut. Von der Auferstehung her gelesen, ergibt die Geschichte Sinn. Dennoch bleibt ein bitterer Nachgeschmack.

Zuerst offenbart sich Gott als der liebende und barmherzige Vater, der seinen Sohn zum Botschafter der kommenden Königsherrschaft beruft und bevollmächtigt. Jesus verkündigt das Himmelreich, das nahe ist, ein Reich, in dem die Liebe den Hass überwindet und Vergebung die Vergeltung unterbricht.

Doch Gott überlässt den Gesalbten seinen Verfolgern, die ihn foltern und hinrichten, als wäre er ein elender Verbrecher – um ihn dann doch wieder zu erwecken!

Warum diese Gewalt? Brauchte es ein «Haupt voll Blut und Wunden», um die Botschaft dramatischer zu machen? Lässt diese Fallhöhe die beteiligten Menschen böser und die Auferweckung umso spektakulärer aussehen? Geht es an Ostern darum, dass eine souveräne Gottheit den zerbrochenen Christus wiederherstellt? Wäre es so, käme Gott ungeschoren davon.

Apostel Paulus sieht das anders. Für ihn ist klar, dass das «Wort vom Kreuz» ein Skandal und eine Torheit ist (1 Kor 1,23). Gott macht sich mit seinem Messias vor aller Welt lächerlich! Sein Ruf als Allmächtiger hat (bei den Mächtigen) gelitten.

Dass Gott «seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben hat», ist für Paulus dennoch ein Grund zur Freude. Er fragt: «Wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?» (Röm 8,32). Das «mit ihm» ist entscheidend. Gott hat den Gekreuzigten für uns auferweckt. Nicht, um sein eigenes Ansehen zu retten. Gott identifiziert sich mit dem Gekreuzigten, zeigt sich, bekennt sich in der Auferweckung des Gekreuzigten auch zum bitteren Teil seiner Sendung. Damit uns die Augen aufgehen.

Das Kreuz offenbart, wer Gott ist. Gott liebt die Welt in einer Weise, die wir nicht begreifen können.   Gott braucht kein Opfer, um besänftigt zu werden. Und Gott schneidet sich nicht ins eigene Fleisch, um Blut zu sehen.  Nein! Darum geht es: Gott hat die Bitte Jesu erhört. Jesus will nicht verschont werden, er bittet Gott, seine Mörder zu verschonen: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun» (Lk 23,34).

Der entscheidende Punkt ist, dass Gott die Mörder verschont. Um jene Menschen zu überraschen, die meinen, sie wüssten, wer Gott ist. Dass sie sich wundern, wie radikal sein Erbarmen und wie gross das Geheimnis des Glaubens ist!   Auch das ist nicht das letzte Kapitel. 

Wenn wir seinen Tod verkünden und seine Auferstehung preisen, bis er wiederkommt in Herrlichkeit, so warten auch wir mit der ganzen Schöpfung auf eine letzte Überraschung. Bis dahin sind wir an der Reihe. Die Mission Jesu ist noch nicht zu Ende. Vielmehr ist sie noch voll im Gang. 

Ralph Kunz

Ralph Kunz

Seit 2004 ist Ralph Kunz Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte sind Liturgie und Predigtlehre, Seelsorge, Gemeindeaufbau und Kirchenleitung. In der Rubrik «Lebensfragen» beantwortet der Pfarrer für «reformiert.» regelmässige Zuschriften von Leserinnen und Lesern zu theologischen Fragestellungen. 

Ist Jesus wirklich auferstanden? 

«Christus ist auferstanden! – Er ist wahrhaftig auferstanden!» So grüssen sich Christen an Ostern. Wahrhaftig! Was ist hingegen «wirklich»? Wer so fragt, kommt vom Zweifel her – intellektuell oder existenziell. Das mag progressiv oder liberal klingen, ist aber zu kurz gedacht.

Meint «wirklich» ein historisches Faktum wie die Ermordung Caesars? Meint es, dass man den Auferstandenen hätte fotografieren können? Oder meint es im Horizont naturwissenschaftlichen Denkens, das sich das Geschehen wie ein Experiment jederzeit hätte wiederholen können?

Damit würde man das Wesen des Geschehens verkennen. Es hätte keine Bedeutung für uns heute, man könnte es zu den Akten legen. Versuche der Erklärung in diesem Horizont gab und gibt es noch immer viele: Die einen postulieren einen blossen Scheintod Jesu, andere wollten die Vision des Auferstandenen mit dem Schuldkomplex des Petrus erklären, vor 50 Jahren meinten Bibelwissenschaftler, Jesus sei nur «in die Verkündigung auferstanden». 

Ist das renitenter Unglaube? Das traut sich die Kirche heute oft nicht mehr zu sagen. Aber das Herumeiern um Ostern ist gleichwohl fragwürdig und trostlos. «Ist Christus nicht auferstanden, so ist euer Glaube nichtig», schrieb Paulus den Korinthern, die sich solches nicht vorstellen konnten und es auch wenig attraktiv fanden (1 Kor 15,14).

Historisch lässt sich die Auferstehung nicht beweisen. Man kann sich ihr nur von den Rändern nähern. Zuvor waren Jesu Jünger ängstlich geflohen, sehr bald danach erzählten sie in ungekannter Dynamik von Gottes Taten. 

Dazwischen muss etwas geschehen sein, und zwar mehr als nur eine betrügerische Verschwörung seiner Anhänger. Die Texte bieten unterschiedliche Zeugnisse: Erzählungen von der Entdeckung des Grabes, das geöffnet ist, und der Nichtauffindung des Leichnams. Berichte von Erscheinungen Jesu vor einzelnen Personen und Gruppen, ehemaligen Anhängern und Skeptikern wie Jakobus. Und knappe Bekenntnisse der Auferweckung. 

Diese Bekenntnisse sind die ältesten Aussagen. Schon Paulus, unser frühester Autor, hat sie übernommen, einige gehen auf Aramäisch sprechende jüdische Zeugen der frühesten Zeit zurück. Offenbar wurden die Ereignisse schon früh auf auf dem Hintergrund der jüdischen Hoffnung auf endzeitliche Totenerweckung so gedeutet, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt habe.

Zunächst erschienen die Widerfahrnisse den Anhängern nicht tröstlich, sondern erschreckend: War es Leichenschändung? Sahen sie ein Gespenst? Erst als sie erkannten, dass der Erscheinende kein anderer war als der Gekreuzigte, den sie kannten, wurden sie froh, vertrauensvoll, zu Zeugen, dass Gottes Handeln doch weiterging. Objektive Beweise gab es nicht. Aber sie wurden selbst verändert, aus Verängstigten wurden mutige Zeugen, alles erschien in neuem Licht. Die Wirkung zeigt, was «wirklich» ist.

Historisch lassen sich nur innerweltliche Phänomene beschreiben. Wäre Jesu Auferstehung ein solches, wäre sie irrelevant. Der Anspruch ist viel grösser: dass die Welt in ganz neuem Licht erscheint und dass die Zuwendung Gottes, die Liebe, wahrer ist und beständiger als die Mächte der Welt.

Dieser Glaube lässt sich nicht beweisen. Etwas muss jedoch passiert sein, dass solche Wirkungen wahrnehmbar waren und Menschen bis heute verändern. Darum sollten wir nicht herumeiern. Er ist wahrhaftig auferstanden!

Jörg Frey

Jörg Frey

Seit 2010 ist Jörg Frey Professor für Neutestamentliche Wissenschaft mit Schwerpunkt Antikes Judentum und Hermeneutik an der Universität Zürich. Zudem ist er Forschungspartner der University of the Free State in Bloemfontein (SA). Diesen Februar erhielt er den Mentoring Award der Universität für seine Verdienste in der akademischen Nachwuchsförderung.