Recherche 25. Februar 2020, von Anouk Holthuizen

Was bedeuten Pflegekinder für die eigene Familie?

Pflegekinder

Ramona und Roger Arnold begannen ihr Familienprojekt zuerst mit Pflege-, statt eigenen Kindern. Im Interview erzählen sie von ihrem trubeligen Alltag.

Ramona und Roger Arnold, was motivierte Sie, Pflegeltern werden zu wollen?

Ramona: Wir heirateten 2012 und wollten Kinder. Aber es ging uns nicht schnell genug. Da wir in einem grossen Haus wohnen, wo auch Rogers Eltern leben und beide viel daheim sind, dachten wir, das könnten wir doch anbieten.
Roger: Zwei Jahre nachdem wir das erste Pflegekind begrüssen konnten, kam unser erstes Kind zur Welt. Aber wir wollten weiterhin Pflegeeltern bleiben.

Ihr erstes Pflegekind war 13 Jahre alt, Sie sind quasi über Nacht in die Elternrolle gerutscht. Wie war das?

Roger: Wir waren erst nervös. Es waren Ferien, und plötzlich war zwei Wochen lang rund um die Uhr ein Kind hier.
Ramona: Nach der ersten Woche waren wir recht k.o. Aber eigentlich müssen sich ja alle Eltern daran gewöhnen, dass nun plötzlich ein Kind da ist.

Sie sind eine sogenannte «SOS- und Entlastungsfamilie» und nehmen unter anderem kurzfristig Kinder aus Familien in Not auf. Sind Sie jederzeit parat?

Ramona: Ich arbeite zwei Tage pro Woche in einem Büro und kann praktisch jeden Moment die Arbeit verschieben. Als ich meinem Chef damals sagte, dass ich gerne Pflegemutter werden würde, sagte er, dass er das voll unterstütze, wir das mit den Arbeitszeiten schon hinbekommen würden. Oft kann ich die Arbeit reduzieren, manchmal springen meine Schwiegereltern ein.
Roger: Da wir einen Hof haben sind wir sowieso die meiste Zeit hier. An drei bis vier Vormittagen Tagen pro Woche arbeite ich in einer Metzgerei. Aber wir haben auch schon eine Platzierung abgelehnt, da es zeitlich überhaupt nicht passte.
Ramona: Als ich mit der Ältesten schwanger war, hätte ein zweijähriges zu uns kommen sollen, doch wir waren im Hinblick auf die Geburt zu nervös. Kurz nach der Geburt kam eine Elfjährige zu uns, das war dann kein Problem.

Was wissen Sie über die Pflegekinder, die zu ihnen kommen?

Roger: Wenig. Manchmal gar nichts. Oft kommen sie so kurzfristig, dass auch die Fachstelle noch wenig über die Kinder weiss. Manchmal erzählen die Kinder selber, oft aber auch fast nichts. Sie stecken in schwierigen Geschichten.
Ramona: Wir fragen die Kinder nicht aus, sondern sind einfach für sie im Alltag da.
Aber wenn ein Kind reden möchte, kann es jederzeit zu Roger und mir kommen. 

Kommen die Traumatas, die einige der Kinder erlebt haben, im Verhalten zum Ausdruck? Wie gehen Sie damit um?

Bei uns sind die Kinder nur kurze Zeit, da zeigt sich das kaum. Bei Dauerplatzierungen ist das bestimmt stärker ein Thema.

Dürft Sie den Alltag der Kinder bestimmen, als wären Sie die eigenen Eltern? 

Ramona: Nein, jeden grösseren Entscheid treffen die Eltern oder der Beistand. Wir haben keine Adoptiv- sondern Pflegekinder. Aber wenn Fortuna heute Abend in den Ausgang will oder ähnliches, regeln wir das selbst mit ihr.
Roger: Das ist für uns als SOS-Familie nicht so ein Thema, aber ich denke bei Dauerplatzierungen ist das schwieriger. Wer lange ein Kind betreut kennt es gut und hat vielleicht eine Idee, was gut für das Kind wäre, zum Beispiel einen bestimmten Kurs zu besuchen. Aber wenn die Eltern dagegen sind kann man nichts machen. Deshalb kam es für mich nicht in Frage, Pflegevater für Dauerplatzierungen zu sein.

Kennen Sie die Eltern der Pflegekinder?

Ramona: Nur ein Mal lernten wir die Mutter kennen, da es darum ging, ihre neugeborenen Zwillinge zu betreuen nachdem sie schwer erkrankt war. Ansonsten haben Pflegeeltern keinen Kontakt zu den leiblichen Eltern. Wohl aber kennen wir die anderen Pflegeltern von Kindern, die an Wochenenden oder in den Ferien zu uns kommen. Sie treffen wir, wenn sie die Kinder bringen oder holen.

Wie erleben Ihre eigenen Kinder das alles?

Ramona: Die grosse Tochter kann sich inzwischen dazu äussern. Sie freut sich über jedes Kind und fragt jedes Mal wenn ein Kind geht, wann es wiederkäme. Doch für die Kinder ist es auch in Ordnung, wenn nach zwei oder drei Wochen Full House auch mal wieder Ruhe ist.
Roger: Vor allem wenn die Kinder altersmässig nahe beieinander sind, geht schon oft die Post ab. Wenn sie friedlich zusammen spielen ist es wunderbar, aber es gibt natürlich auch Streit. Da ist in jeder Familie so.

Gelten für alle Kinder die gleichen Regeln?

Ramona: Das ist nicht immer einfach zu handhaben. Die Pflegekinder sind nicht ständig bei uns und manchmal weiss ich nicht, ob ich gleich schnell stopp sagen soll wie bei unseren eigenen Kindern. Da muss man ein Mittelmass finden. Zudem sind alle Kinder unterschiedlich alt, viele Pflegekinder sind Teenager während unsere noch klein sind.
Roger: Wir erwarten auch nicht, dass jene, die nur am Wochenende hier sind, viele Ämtli übernehmen. Fortuna zum Beispiel, die jetzt gerade hier ist, schläft als Teenager gerne aus und erholt sich vom Schulalltag. Sie hilft aber oft spontan im Haushalt und spielt mit den Kindern. Haben wir ein Programm kann sie selbst bestimmen ob sie mitgehen will oder zuhause bleibt.

Was bedeutet diese Aufgabe für Ihre Paarbeziehung?

Ramona: Da wir viel mehr organisieren müssen, müssen wir auch viel mehr diskutieren. Der Stress ist höher, damit muss man umgehen können.
Roger: Dieses Engagement kann man nicht machen, wenn die Beziehung nicht stabil ist.

Sie haben seit Sie 2014 Pflegeeltern wurden zusätzlich zu Ihren neun Kinder betreut. Bald kommt Ihr drittes Kind. Was motiviert Sie, weiterzumachen?

Ramona: Es ist schön, so viele Kulturen und verschiedenen Charaktere kennen zu lernen. Und ich finde es wichtig für unsere Kinder zu erfahren, dass es nicht selbstverständlich ist, Mami und Papi zu haben. Dass man füreinander da sein muss.
Roger: Wir lernen so viele Facetten des Lebens kennen, und das regt mich an, über vieles nachzudenken. Zudem bin ich selbst in einer Grossfamilie aufgewachsen, das erlebte ich als sehr harmonisch. Mir tut es weh zu sehen, wie viele Kinder allein im Aargau nicht bei ihren Eltern aufwachsen können.
Ramona: Die Arbeit ist trotz vielen Herausforderungen sehr erfüllend und sinngebend.
Roger: Ich bin stolz, dass wir das können.