Recherche 13. Januar 2021, von Felix Reich

Jesus startet eine Revolte der Würde

Kultur

Milo Rau gelingt mit «Das neue Evangelium» ein grossartiger Film: so verstörend wie hoffnungsvoll. Er verknüpft den biblischen Stoff mit Filmgeschichte und politischem Engagement.

«Schnitt!» In der dunkelsten Stunde bricht der Film von Milo Rau ab. Rund um die erschütternd inszenierte Kreuzigungsszene wird die Filmcrew sichtbar, kalte Autoschein­werfer ziehen vorbei. Dann nur das nächtliche Meer. Am Strand hatte in einer der eindrücklichsten Filmszenen ein Arbeiter gesessen und von seiner Überfahrt erzählt.

Die Fäden finden zusammen

«Das Volk, das in der Finsternis geht, hat ein grosses Licht gesehen» (Jesaja 9,1). Der alttestamentliche Vers aus dem Off wird zur Zusage, dass die Hoffnung, die Jesus den Men­­schen bringt, durch Folter und Tod nicht auszulöschen ist. Die vielen losen Fäden des Films finden zusammen. Und erst weit im Abspann scheint sogar Ostern auf: Yvan Sagnet hält eine Packung ohne Ausbeutung produzierte Tomatensauce in der Hand. Während der Dreharbeiten gelang es zudem, mit Unterstützung der Kirche «Häuser der Würde» für die Landarbeiter zu bauen.

Ausstellung und Streaming

In der Citykirche Offener St. Jakob in Zürich ist eine Ausstellung über die No-Cap-Bewegung zu sehen. Die Fotografin Ursula Markus hat den Kampf der Arbeiter für faire Produktion dokumentiert. Der Film Das neue Evangelium von Milo Rau ist auf der Streaming-Plattform Playsuisse zu sehen.

Im Zentrum des Films steht Sagnet, der aus Kamerun nach Turin kam. Um sein Studium zu finanzieren, schuftete er auf den Gemüsefeldern Süditaliens. Als ein Arbeiter in der Hitze erschöpft umkippte, sagte der Aufseher nur: Wenn er ihn ins Krankenhaus bringen wolle, brauche er nicht mehr zur Arbeit zu erscheinen. Sagnet wurde Aktivist.

Eine wilde Mischung

Als Rau für einen Bibelfilm nach Matera reiste, wo Pier Paolo Pasolini 1964 und 40 Jahre später Mel Gibson ihre Passionsfilme gedreht hatten, besuchte er auch die Ghettos, in denen die für Hungerlöhne erntenden Landarbeiter leben. Er verknüpfte den biblischen Stoff mit dem sozialen Skandal. In der Jesus-Rolle beruft Sagnet seine Apostel unter den in ausbeuterischen Strukturen gefangenen Migranten.

Rau drehte eine wilde Mischung aus einem mit Stars und Laien besetzten Bibelfilm und einer Dokumentation über dessen Entstehung. Hinzu kommt der Bericht über den Kampf der Landarbeiter für Selbstbestimmung. Die Grenze zwischen Fiktion und politischer Aktion zerfliesst. Was ist geplant, was Zufall?

Die Folterung Jesu wird im Casting vorweggenommen, als ein Katholik mit grässlich rassistischem Furor in der Kirche auf einen Stuhl eindrischt. Schockierend ist insbesondere, dass die Szene nach einem verstörend vertrauten Drehbuch ab­­­läuft. Durch ironische Brechung lenkt Rau den Blick auf Abgründe.

Protest und Palmsonntag

Der Falle, das Evangelium platt zu aktualisieren, entgeht Rau. Die Verbindung zwischen Bibel und Politik bleibt in der Schwebe, oft ist Interpretation nötig. Spät verschwimmt der Einzug nach Jerusalem am Palm­sonntag mit Sagnets gewerkschaftlicher «Revolte der Würde».

Natürlich wird Rau nicht allen Themen gerecht, die er aufgreift. So lässt er die Stelle, als Jesus die Ehebrecherin vor der Steinigung bewahrt (Joh 8,3–11), seltsam achtlos liegen, und nutzt sie lediglich als Übergang. Und die nun auftretende Apostelin, die sich als frühere Prostituierte anderen Frauen annimmt und sie zum Ausstieg ermutigt, hätte einen eigenen Film verdient. 

Verwandlung durch Reflexion

Doch vielleicht ist es die Stärke dieses grossartig gefilmten, aufrüttelnden, oft verwirrenden und endlich hoffnungsvollen Werks voller Anspielungen, dass vor allem einzelne Szenen haften bleiben. Und: Der Film verwandelt, indem er zur Reflexion zwingt.

Judas durchbricht die Mauer des Schweigens

Wie biblische Texte die Sprachlosigkeit angesichts von Schuld und Rache überwinden können, zeigt Regisseur Boris Gerrets in der Dokumentation «Das Klagelied des Judas». Er besucht Veteranen des «32-Bataljon», die am Rande der Kalahari-Wüste in Südaf­rika leben. Die Angolaner hatten an der Seite des Apartheidsregimes gekämpft. Die Mauer des Schweigens fällt, als Gerrets ihnen vorschlägt, einen Film über Judas zu drehen, den Jünger, der Jesus verrät. Biblische Stoffe, gebrochene Biografien und historische Recherche verschmelzen. Gerrets gelingt ein beklemmender, von starker Musik getragener Film.