Glaube 23. April 2024, von Hans Herrmann

«Das Religiöse ist nicht verschwunden»

Theologie

Der ehemalige Berner Synodalratspräsident Andreas Zeller legt ein Buch über die liberale Theologie vor. Im Interview erklärt er, was unter dieser Ausrichtung zu verstehen ist.

Welchen persönlichen Bezug haben Sie zur liberalen Theologie?

Andreas Zeller: Im Berner Ausserholligen-Quartier, wo ich aufgewachsen bin, gab es in der reformierten Kirchgemeinde ein reiches Angebot an Kultur und Jugendarbeit, von dem wir Kinder und Jugendlichen regen Gebrauch machten. So wurde ich auf selbstverständliche Art kirchlich sozialisiert. Prägend für mich waren damals die liberalen Pfarrer Julius Kaiser und Ernst Zbinden. Schon vor Beginn meines Theologiestudiums hatte ich mich für die liberale Richtung entschieden, denn diese Richtung entsprach meiner eigenen Haltung von Anfang an. Als Theologiestudent und junger Pfarrer lernte ich dann die Organisationen, Institutionen, Zeitschriften und wichtigen Personen der Liberalen rasch kennen. Ich schloss mich ihnen an und wurde dort auch aktiv.

Was hat Sie motiviert, zusammen mit Mitautoren ein Buch über die liberale Bewegung in der Berner Kirche von 1981 – 2021 zu machen?

Es war während der Festtage Ende 2021, als Frankreich vier grosse Kernkraftwerke vom Netz nehmen musste. Das führte im Bundesamt für Energie, wo meine Frau arbeitet, zu Krisensitzungen. Ich war somit allein und beschloss, die Zeit fruchtbar auszufüllen. Innert Kürze schrieb ich das Exposé zu diesem Buch. Es entstand aus dem Bedürfnis heraus, die 40 Jahre, die ich aktiv in der liberalen theologischen Bewegung zugebracht habe, historisch zu dokumentieren.

Breit abgehandelt

«Auf das Wesentliche reduziert. Die Liberalen in der reformierten Berner Kirche 1981–2021»: So heisst das rund 400-seitige, im TVZ erschienene Buch von Andreas Zeller mit Beiträgen von Jürg Häberlin, Samuel Lutz, Christoph Jakob, Vreni Aebersold, Deborah Stulz, Stephan Marti, Dominik von Allmen-Mäder und ein Geleitwort von Annette Geissbühler. Es enthält unter anderem einen Überblick über die liberale Theologie in Bern, ein Kapitel über die Bedeutung der Liberalen in Kirche und Christentum sowie mehrere Kapitel, die sich den liberal theologischen Organisationen – etwa dem Reformpfarrverein Bern oder der Liberalen Synodefraktion – widmen. Hinzu kommen die Kurzbiografien wichtiger Personen und auch Gedanken zu den Zukunftsperspektiven. Der Anhang schliesslich enthält unter anderem sämtliche dem Autor vorliegenden Einladungen zu Anlässen und Tagungen im besprochenen Zeitraum. Das Buch ist in jeder Buchhandlung bestellbar.

Vernissage: Donnerstag, 16. Mai 2024, 18:30 Uhr, Le Cap, Predigergasse 3, 3011 Bern. Bitte rasch Anmelden, da nur noch wenig Plätze frei sind: andreas.zeller20@gmx.ch

Was ist das überhaupt, liberale Theologie?

Das sagt eigentlich bereits der Titel des Buches: Auf das Wesentliche reduziert. Es handelt sich um die Vermittlung eines persönlichen, individuellen Glaubensverständnisses, ohne verpflichtende Lehrsätze, sprich Dogmen, aber mit viel kirchlicher Tradition seit der Aufklärung. Auch die historische Perspektive spielt bei den Liberalen eine grosse Rolle, also der Einbezug der historischen Zusammenhänge bei der Auslegung der biblischen Texte. Hinzu kommt das Vorleben ethischen Verhaltens im Alltag.

Liberale Theologie hat also auch einen starken Wissenschaftsbezug. Wie passt das zur traditionellen Berner Volksfrömmigkeit, in der das Unerklärliche, Numinose durchaus wichtig ist?

Spiritualität und Wissenschaft schliessen sich nicht aus. Liberale Pfarrpersonen wirkten und wirken mit gutem Rückhalt auch in ländlichen Gemeinden, das zeigt doch, dass diese Ausrichtung auch bei traditionell Gläubigen ankommt.

Die Antworten der liberalen Theologie auf die Fragen der Zeit orientieren sich nicht nur an einer Haltung, sondern auch an der Machbarkeit.

Liefert liberale Theologie die zeitgemässeren Antworten zu Bibel, Gott, Leben und Sterben als andere Strömungen?

Die liberale Theologie ist befreiend. Ihre Antworten auf die Fragen der Zeit orientieren sich nicht nur an einer Haltung, sondern auch an der Machbarkeit. Mit Blick auf heutige Ersatzreligionen wie Sport, Geld, Körperkult und anderen hat die liberale Theologie die besseren Antworten als eine dogmatisch orientierte Theologie.

Wie ist das genau zu verstehen?

Konservative Theologien – wie die sogenannte positive Richtung in der Landeskirche oder auch die Freikirchen – sprechen von Offenbarung und Dogma. Das findet in der heutigen scheinbar religionsarmen Gesellschaft wenig Widerhall. In Wahrheit aber ist das Religiöse nicht verschwunden, das Bedürfnis nach religiöser und spiritueller Orientierung ist überall sichtbar, gerade auch in den vorher genannten Ersatzreligionen. In diesem oft kirchen- und bibelfernen Umfeld kann ein liberaler theologischer Ansatz die Leute besser ansprechen als ein dogmatischer.

Wie prägte die liberale Bewegung die Berner Kirche im Zeitraum, in dem vom Buch die Rede ist, also von 1981 bis 2021?

Einerseits begann vieles zu bröckeln, die Pfarrerinnen und Pfarrer des Nachwuchses wollten sich oft nicht mehr in eine bestimmte theologische Richtung einbinden lassen. Das war natürlich auch bei den Liberalen zu merken. Andererseits haben diese die Kirche in den besagten 40 Jahren stark mitgeprägt. In meiner Zeit als Synodalratspräsident wurde zwischen den Reformierten Landeskirchen Bern-Jura-Solothurn und mehreren freikirchlichen Gemeinschaften ein Papier zur gegenseitigen Anerkennung unterzeichnet. Am Berner Altenberg entstand das «Haus der Kirche» mit den zentralen kirchlichen Diensten, weiter erfolgte eine landeskirchliche Reorganisation, und auch bei der Schaffung einer Verfassung für die Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, die 2020 in Kraft getreten ist, brachte sich Bern stark ein – all dies trägt eine deutlich liberale Handschrift.

Wie liberal im theologischen Sinn sind die Predigten, die landauf, landab im Kanton Bern heute zu hören sind?

Ich bin nicht umfassend auf dem Laufenden, was derzeit alles gepredigt wird, zumal ich selber sonntags auch noch predige. Alles in allem vermisse ich etwas das Anliegen, den Glauben auch dem Verstand zugänglich zu machen. Das ist ein originär liberales Anliegen. Stattdessen sehe ich, dass das konservative Element zunimmt, also häufiger evangelikal gepredigt wird. Auch Predigten mit einer stark sozialen und ökologischen Komponente sind heute öfter zu hören.

Was können die Liberalen zur Zukunft der Berner Reformierten beitragen?

Unser Kapital ist die Offenheit. Damit können wir Liberalen in unsere Zeit hineinwirken. Entsprechend bringen wir uns dezidiert in den interreligiösen Dialog ein und greifen mit wachem Sensorium die aktuellen Strömungen in Kirche und Gesellschaft auf, um sie in zeitgemässer Form in das Glaubensleben zu integrieren.

Der promovierte Theologe und Pfarrer Andreas Zeller (68) war 2007 bis 2020 Synodalratspräsident der Reformierten Landeskirchen Bern-Jura-Solothurn.