Glaube 24. April 2024, von Marius Schären

«Ein unspektakulärer, aber sehr spiritueller Moment»

Spiritualität

Pfarrer Uwe Habenicht fand im Gespräch mit einer Schamanin im Stapferhaus Lenzburg viel Gemeinsames. Im Interview beschreibt er ganz praktisch Spiritualität in der Natur.

Was ist Natur für Sie?

Uwe Habenicht: Für mich ist Natur all das, was nicht menschlich hergestellt wurde, sondern das, was ich vorfinde. Sozusagen also, was sich meinem Willen und meiner Gestaltungskraft entzieht und deshalb jenseits meiner Verfügungsmacht steht. Natur finden wir vor.

Was davon bringt Ihnen die grösste Freude?

In der Natur zu sein ist deshalb so wunderbar, weil uns die Natur zu nichts auffordert. Die Expertinnen und Experten nennen das einen ungerichteten Raum; in der Natur kann ich einfach da sein, ohne dass ich eine Aufgabe oder eine Rolle übernehmen muss. Hier muss ich nicht aufräumen, nichts wegräumen, keine Geschirrspülmaschine leerräumen oder sonst etwas tun. Die Ameise findet auch ohne mich ihren Weg und die Amsel singt ihr Lied, ob ich nun da bin oder nicht. In der Natur rücke ich aus dem Zentrum an den Rand und bin einfach eines von ganz vielen Geschöpfen neben, über und unter mir.

Und gibt es etwas, das Ihnen Angst oder Kummer bereitet?

Dass wir als Menschheit keine entschiedenen Wege aus der Klimakrise und dem Artensterben finden, bedrückt mich zutiefst. Als Einzelne können wir einiges bewirken, aber wir wissen auch, dass wir als Gesellschaften insgesamt ein weniger ressourcenfressendes Leben führen müssten. Da liegt eine riesige gemeinschaftliche Aufgabe vor uns – und ich sehe nicht, dass wir ernsthaft an Lösungen arbeiten. Wir schaffen den Abschied von alten Mustern einfach nicht.

Uwe Habenicht

Uwe Habenicht

Der reformierte Pfarrer im Team von Straubenzell/St. Gallen West ist auch Beauftrager für Gottesdienst und Liturgie in der Kantonalkirche von St. Gallen, Outdoorguide und Predigtcoach. Ausserdem ist Habenicht Autor mehrerer Bücher zum Thema Spiritualität, zuletzt erschiednen: Draussen abtauchen. Freestyle Religion in der Natur, Echter Verlag 2022. In der Ausstellung «Natur. Und wir?» im Stapferhaus in Lenzburg diskutierte er an einem Podium am 22. April mit der Schamanin Sonia Emilia Rainbow.

Bei welchem Naturerlebnis haben Sie am stärksten Spiritualität erfahren, waren Sie «ergriffen von der Gegenwart von etwas anderem», wie Sie es in einem Interview mit dem Deutschlandfunk beschrieben?

Für mich sind es nicht die grossen und berühmten Naturschauspiele, die mich ergriffen haben. Vielmehr sind es viele oft sehr unscheinbare Momente, in denen sich etwas gezeigt hat. Ich komme gerade von einem Seminar zum Thema Schöpfungsspiritualität. Haben Sie schon mal mit einer Lupe in die Rinde einer Kiefer geblickt? Unglaublich, was sich da an Tiefenschichten auftut, es ist, als schaute man in eine tiefe Höhle. In solchen Augenblicken verstehe ich, dass ich ein Teil eines unbegreiflichen und unfasslichen grossen Ganzen bin. Das ist ein unspektakulärer, aber sehr spiritueller Moment: Ich finde meinen Platz in einem grossen Ganzen und werde dankbar und demütig, ein Teil davon sein zu können. Spiritualität heisst für mich, mit den sichtbaren und unsichtbaren Lebenskräften, mit der Lebensquelle schlechthin verbunden zu sein.

Was haben Sie aus dem Podiumsgespräch im Stapferhaus am 22. April mitgenommen?

Ein Podiumsgespräch mit einem reformierten Pfarrer und einer Schamanin ist ja an sich schon mal etwas Aussergewöhnliches. Da stossen zwei Welten aufeinander, die erstmal eine Gesprächsbasis finden müssen. Dass das Gespräch mit Sonia Rainbow dann voller Entdeckungen über Gemeinsames war, war auch für mich eine Überraschung. Natürlich sprechen wir in unterschiedlicher Weise über unsere Erfahrungen in der Natur – und doch gibt es vieles, das sich überschneidet und übersetzen lässt.

Und noch etwas: Sonntagsmorgen um 11.15 Uhr kommen fast hundert Personen in einem Museum zusammen, beten mit einer Schamanin und reisen mit einem Pfarrer durch die Jahreszeiten ihres Lebens. Das ist doch wirklich erstaunlich und war sehr eindrucksvoll. Ein grosses Kompliment an das Stapferhaus, solche Brücken geschlagen zu haben und damit auch Berührungsängste abzubauen.

Die wichtigsten Erfahrungen liegen jenseits der Sprache und des Sagbaren. Wie kommen wir eigentlich auf die Idee, dass Gott nur durch menschliche Worte spricht?

Und was aus der Ausstellung?

Von der Ausstellung habe ich bisher noch einen ersten sehr flüchtigen Eindruck bekommen können, werde aber ganz sicher nochmals hinfahren, um in die Weite dieser spannenden Ausstlellung einzutauchen.

Wie verbinden Sie Natur und Spiritualität?

Spiritualität in und mit der Natur, wie wir sie etwa in unserer St. Galler Waldkirche «Waldgwunder» praktizieren, ist eine wunderbare Möglichkeit, Gott durch seine Geschöpfe zu hören und im Buch der Natur zu lesen. Wer sich zweckfrei und ohne Leistungsdruck in die Natur begibt, hat die Chance, in einen Raum einzutreten, in dem die Mitgeschöpfe anfangen, mit uns zu sprechen. In der Natur können wir einen Raum betreten, in dem wir unsere endlosen Selbstgespräche mit uns unterbrechen können, um etwas zu hören und wahrzunehmen, was uns übersteigt und trägt. In der Natur erleben wir, was es heisst, ein einzigartiges Geschöpf zu sein, das eingebunden ist in ein grosses Geheimnis, und so an diesem kraftvollen Lebensgeheimis teilhaben zu können.

Und was hat das mit der evangelisch-reformierten Kirche zu tun?

Ach, wir Reformierten bestehen oft nur aus Gedanken und Kopf. Spiritualität in und mit der Natur kann zu einem Korrektiv werden für etwas, das uns verloren gegangen ist. Die wichtigsten Erfahrungen liegen jenseits der Sprache und des Sagbaren. Wie kommen wir eigentlich auf die Idee, dass Gott nur durch menschliche Worte spricht? In Psal 19 heisst es so schön: «Ein Tag sagts dem anderen und eine Nacht tuts der anderen kund – ohne Worte und ohne Stimme ...» Die Sensibilität für diese vorsprachliche Erfahrungsdimension würde ich gerne wieder gewinnen – das Nachdenken und die Worte können dann folgen, sind aber nicht das Erste.

Beschreiben Sie bitte an einem Beispiel aus der Natur, wie Sie Martin Luthers vierfaches Kränzlein anwenden …

Luthers Meditationsvorschlag, der aus seiner eigenen Gebetspraxis kommt, ist ein schönes Beispiel dafür, wie sich eine Meditation über einen Bibelvers auf die Natur übertragen lässt und auf diese Weise z.B. ein Buchenblatt oder ein Flusskiesel beginnt zu sprechen. Das sinnliche Erfahren eines Stücks Natur regt in uns, wenn wir uns darauf einlassen, Erstaunliches an. Probieren Sie es einmal aus!

Sie suchen sich etwas aus der Natur, das ihr Interesse weckt.

An einem ruhigen Ort kommen Sie im Sitzen zur Ruhe, legen das Gefundene vor sich ab, schliessen für einen Moment die Augen, tun ein paar kräftige Atemzuüge und kommen so zur Ruhe.

Dann schauen Sie sich ihr Naturelement …

das vor ihnen liegen bleibt, genauer an. Was können Sie erkennen und erahnen? 

Dann nehmen Sie es in die Hand …

… erkunden es sehr behutsam mit den Händen, drehen und wenden es, «besehen» es aus der Nähe mit den Händen: seine Oberfläche, Unebenheiten, Gewicht, Temperatur und alles, was sich ertasten lässt. 

Riechen Sie ruhig auch einmal daran!

Formulieren Sie mit dem Naturobjekt in der Hand einen Dank.

Wofür sind Sie nach dem Erkunden ihres Naturobjektes dankbar? Welcher Dank steigt in diesem Moment in auf?
Gott, ich danke dir …

Formulieren Sie dann, welche Einsicht sich bei Ihnen einstellt:
Gott, ich erkenne (oder sogar bekenne) …

Was möchten Sie von Gott in diesem Moment erbitten?
Gott, ich bitte dich …

Zum Abschluss …

… legen sie das Naturelement wieder vor sich, lassen das Gebet nachklingen und dann, mit den Worten Luthers: wohlgemut in den Alltag!

Und im Alltag, zwischen Lohn- und Familienarbeit und Freizeittätigkeiten: Was machen Sie in spiritueller Richtung in der Natur, wenn Sie vielleicht nur eine halbe Stunde Zeit haben?

Die eben beschriebene Übung ist sehr geeignet auch draussen in der Natur. Was auch wunderbar ist, sich einen schönen Baum zu suchen, sich an ihn zu lehnen und erstmal einfach nur mit ihm im Rücken zu atmen. Dann schauen und hören Sie, was der Baum von diesem Ort aus, alles wahrnehmen kann. Schieben Sie sich ein Stück weiter am Baum entlang und erkunden Sie von dort aus die Erfahrugen des Baumes. Was lässt sich von hier aus sehen und hören? Wenn Sie an vier Stellen Halt gemacht haben, werden Sie sehr tief in das Leben dieses Baumes eingetaucht sein und selbst etwas von seiner Ruhe und Kraft in sich spüren.

Natur. Und wir?

Natur. Und wir?

Die Ausstellung im Stapferhaus in Lenzburg dauert noch bis am 30. Juni. Wir finden Erholung in der Natur, verehren das Natürliche und sehnen uns nach Wildnis. Gleichzeitig suchen wir mit allen Mitteln der Technik nach Lösungen, um winzige Viren, gewaltige Wasser und verheerende Flammen in den Griff zu bekommen. Was ist eigentlich Natur? Und wem gehört sie? In der interaktiven Austellung wird Selbstverständliches hinterfragt, neue Perspektiven können entwickelt werden. Barfuss und zum Meinungsaustausch sanft aufgefordert tauchen Besuchende von Kopf bis Fuss in eine poetische Welt ein und diskutieren darüber, wie sie ihren Umgang mit Natur in Zukunft gestalten. 

www.stapferhaus.ch

Foto: Stapferhaus/Anita Affentranger