Kindermund 30. April 2021, von Tim Krohn

Lauffeuer und die Frage nach dem Glauben

Kindermund

An Gott glaubt Bigna nicht. Aber für Jesus zündet sie eine Kerze an, doch wünscht ihm nichts, er ist ja schon tot. Für sich zündet sie auch eine an. So passiert ihr nichts. Oder?

Heute waren wir in der Kirche. Ich habe für einen lieben Menschen eine Kerze angezündet, Bigna woll­te mit. «Darf ich auch eine an­zünden?» «Ja, natürlich.» «Aber du musst sie bezahlen. Ich habe kein Geld.» «Ich habe genug für zwei Kerzen. Für wen zündest du sie denn an?» «Ich weiss nicht. Für Jesus.» «Und was wünschst du ihm?» «Gar nichts. Er ist ja schon tot.» Ich nickte: «Und auferstanden.» «Nein, daran glaube ich nicht. Ich glaube auch nicht an Gott und so. Ich glaube, Jesus hat es gegeben, aber er war ein ganz nor­maler Mensch. Ein Mensch, der anderen Menschen viel geholfen hat. Deshalb ist er jetzt auch im Himmel. Und wenn einer im Himmel ist, muss man ihm ja nichts mehr wünschen.»

«Ach, an den Himmel glaubst du?», fragte ich nach. «Na ja, glauben nicht. Aber es wäre schön, wenn es ihn gäbe. Also eigentlich glaube ich schon, dass es ihn gibt.» «Und wie ist Jesus dahin gekommen, wenn er nicht aufer­standen ist?» «Doch, auferstanden ist er schon. Nur nicht mit so viel Brimborium, sondern ganz heimlich.» Sie blies die Kerze aus und zündete sie nochmals an, weil es schön war zuzusehen, wie die Flamme vom Streichholz über den Rauch der Kerze auf den Docht übersprang. «Gibt es dafür ein Wort?», fragte sie. «Ich weiss nicht, vielleicht ‹Lauffeuer›.»

Sie liess das Feuer noch ein paarmal laufen, dann fragte sie: «Denkst du, ich habe dein Geld verschwendet, weil ich für Jesus eine Kerze anzünde?» «Weil er schon tot ist?» «Nein, weil er gut war. Wenn einer so viel Gutes tut, kommt er sowieso in den Himmel, oder?» «Es ist zu hoffen. Wärst du gern wie Jesus?» Bigna dachte nach. «Na ja, schlecht wärs nicht. Doch es muss auch nicht unbedingt sein. Aber mal so tüchtig im Tempel rummotzen, das macht sicher Spass.» Sie sah sich in der Kirche um, ob wir allein waren, dann schimpfte sie leise etwas auf Romanisch, das ich nicht verstand. «Was hast du gesagt?» Sie wurde rot. «Nichts. Aber meinst du, dass der liebe Gott mich gehört hat?» «Und wenn schon, du glaubst ja nicht an ihn.» «Stimmt», sagte sie erleichtert, «und eigentlich habe ich die Kerze für mich selber angezündet. Dann passiert mir schon nichts, oder?»

Tim Krohn, 52

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schreibt Krohn seit Anfang 2017 die Kolumne «Kindermund», anfangs ein Jahr lang im Wechsel mit Richard Reich (Schöpfungen).

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