Kultur 06. Februar 2024, von Isabelle Berger

Ein unausgeglichenes Verfahren

Dokumentarfilm

In «Die Anhörung» stellen sich abgewiesene Asylsuchende erneut den Fragen zu ihrem Asylantrag. Das Publikum erhält einen tiefen Blick in die Problematik des Verfahrens.

«Sie können ohne Angst sprechen» – diesen Satz hört man in den ersten paar Szenen des Films «Die Anhörung» gleich zweimal. Doch im Verlauf des Films wird immer deutlicher, dass dieser Satz im besten Fall weltfremd, im schlimmsten perfide ist. Zu hören bekommen ihn Asylbewerbende bei ihrer Anhörung auf dem Staatssekretariat für Migration (SEM), wo sie ihre Fluchtgründe darlegen müssen, um Asyl in der Schweiz zu erhalten. Zwei abgewiesene Asylsuchende und zwei vorläufig Aufgenommene haben sich für den Film der Schweizer Regisseurin Lisa Gerig dem Verfahren ein zweites Mal gestellt. Die zwei Männer und zwei Frauen sind aus ihrer Heimat geflüchtet, weil sie um ihr Leben fürchten mussten.

Im Film treffen die vier auch auf echte SEM-Mitarbeitende, welche die Anhörungen durchführen. Den simulierten Anhörungen stehen im Dokumentarfilm Szenen vom Aufbau oder dem Mittagessen gegenüber, bei dem alle am Film Beteiligten in den weitläufigen Räumen des Drehorts gemeinsam am Werk sind und sich ungezwungen über das Verfahren unterhalten. Etwa darüber, dass viele Flüchtlinge so schwer traumatisiert sind, dass sie erst nach jahrelanger Therapie überhaupt wieder Zugang zu ihren schlimmen Erinnerungen erlangen.

Dass die Anhörungen selbst nachgestellt sind, vergisst man allerdings sofort, wenn man den Film sieht. Die Beteiligten scheinen sich auch in der Inszenierung dieser angespannten Gesprächssituation nicht entziehen zu können. Das wiederum verstärkt das Staunen darüber, dass sich SEM-Mitarbeitende und Asylbewerbende am Rand der Dreharbeiten auf Augenhöhe begegnen und kollegiale Diskussionen führen.

Die Bedrängnis wird spürbar

Auch formal werden die Szenen unterschieden: Die Szenen hinter den Kulissen sind in der Totalen gedreht, diejenigen der Anhörungen in Nahaufnahmen. Was die allgemeine Bedrängnis in dieser Situation spürbar macht. Da sitzt etwa ein junger Afghane seinem Befrager gegenüber. Zwischen Ihnen die Dolmetscherin, dahinter eine Protokollantin. Die energischen Geräusche von Kugelschreiber und Tastatur begleiten das Geschehen. Der Asylsuchende wird zu seiner Familie befragt. Er antwortet nach langem Nachdenken und zögerlich, was sofort peinlichst genau so übersetzt und festgehalten wird, inklusive Auslassungspünktchen. «Wenn ich etwas nicht sage, dann ist es, weil ich Angst um meine Familie habe», sagt der Mann, ein Folteropfer, darauf. In dieser unausgewogenen Drei-zu-Eins-Situation über dieses Thema angstfrei zu sprechen – unmöglich.

Auch in weiteren Szenen wird deutlich, welch schwieriges Unterfangen die Anhörungen sind: Da sind das grosse Machtgefälle zwischen Befragenden und Befragten und das latente Misstrauen der Ersteren gegenüber den Letzteren. Dazu kommen die Schwierigkeiten der Asylbewerbenden, in Anbetracht ihrer Traumata und der Angst vor den Folgen ihrer Schilderungen ihre Geschichten wie gefordert «widerspruchsfrei» und «glaubwürdig» zu erzählen.

Prix de Soleure für «Die Anhörung» von Lisa Gerig

Prix de Soleure für «Die Anhörung» von Lisa Gerig

Der Film wurde Ende Januar 2024 mit dem Prix de Soleure, dem mit 60 000 Franken bestdotierten Schweizer Filmpreis. Die Regisseurin Lisa Gerig ist seit Jahren selbst für die NGO Solinetz im Asylbereich tätig und kennt viele Geflüchtete, ihre Geschichten und das Schweizer Asylwesen aus nächster Nähe. «Die Anhörung» ist ihr erster Lang-Dokumentarfilm. Nach ihrem Studium in Genf, Zürich und Köln arbeitet sie als freischaffende Filmemacherin in den beiden letztgenannten Städten.

Kaum hat sich eine gewisse – dem echten Verfahren entsprechende? – ermüdende Länge bemerkbar gemacht, geht der Film in einen zweiten Teil über, in dem es einen Rollentausch gibt. Nun befragen die Asylsuchenden die SEM-Mitarbeitenden. «Ich war in der Badewanne», ist die Antwort eines solchen auf die Frage nach dem Ort, an dem er den Bescheid zu seinem Bewerbungsgespräch beim SEM erhielt. Er lacht dabei, gleichzeitig peinlich berührt und amüsiert.

Auf frappante Art wird ersichtlich, wie intim die Fragen sind, die in diesen Gesprächen gestellt werden. Dass sich derselbe SEM-Mitarbeiter auch nicht mehr daran erinnern kann, mit wem er sein Bewerbungsgespräch hatte, steht einer Szene gegenüber, in der ein Asylbewerber aus Kamerun erzählt, wie er in seiner echten Anhörung nach der genauen Anzahl Personen gefragt wurde, die bei einer Attacke auf ihn zugegen waren. Er konnte sich beim besten Willen nur ungefähr erinnern. Beim Angriff wurde er verletzt und ist seither einseitig blind.

Durch den Film erhält die Öffentlichkeit zum ersten Mal Einblick in das Verfahren der Anhörung – eine bemerkenswerte Leistung der Regisseurin. Entschieden, wer in der Schweiz Asyl erhält und wer nicht, wurde bisher unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Da der Film auf die Gesprächssituation bei der Anhörung und auf Kommentare der Asylbewerbenden fokussiert, bleiben allerdings die genauen Bewertungskriterien des SEM für oder gegen die Gewährung von Asyl im Dunkeln.

Das Ungleichgewicht wird offenbar

Dafür zeigt der Film das Ungleichgewicht in der Befragungssituation und damit die grundlegende Fragwürdigkeit des Verfahrens: Traumatisierte Menschen müssen Fremden ihre geheimsten Geschichten erzählen, und zwar Fremden, die oft ihre Muttersprache nicht verstehen. Und die über ihr Schicksal entscheiden, vielleicht sogar über Leben oder Tod. Damit stellt der Film grundsätzlich in Frage, ob Anhörungen in dieser Form das geeignete Instrument sind, um den Anspruch eines Menschen auf staatlichen Schutz zu klären.

Der Film hinterlässt gemischte Gefühle bezüglich des schweizerischen Asylverfahrens. Sie sei «baff und traurig», sagt eine Zuschauerin nach der Vorstellung. Doch es kommt nicht nur Mitgefühl für die Asylbewerbenden auf, deren Sichtweise im Film klar im Zentrum steht. Auch die SEM-Mitarbeitenden erhalten ein Gesicht. Etwa, wenn eine Interviewerin erzählt, dass sie gerne beim SEM arbeite, weil sie Sprachen und andere Kulturen interessierten. Oder wenn die zweite SEM-Mitarbeiterin im Film sagt, dass sie die Anhörungen als «Chance» für die Asylbewerbenden sehe und nicht als Bestrafung – und durchaus den Eindruck erweckt, dass sie mit ihrer Arbeit Gutes bewirken möchte. Doch sie erhält von der sie interviewenden Asylbewerberin, einer wegen ihres politischen Aktivismus verfolgten indischen Transfrau, die Rückmeldung, dass es für sie eben doch eine Bestrafung gewesen sei. Solche Diskrepanzen legt der Film offen.

Es erstaunt mich, dass die Asylbewerbenden ihre Traumata nochmals aufrollen.
Zuschauerin von «Die Anhörung»

Dass sich sowohl die abgewiesenen Asylsuchenden wie auch die SEM-Mitarbeiterinnen auf dieses konfrontative Filmabenteuer eingelassen haben, ist ein weiteres Kunststück von Regisseurin Lisa Gerig. «Es erstaunt mich, dass die Asylbewerbenden ihre Traumata nochmals aufrollen», sagt eine andere Zuschauerin, die beruflich mit solchen Menschen zu tun hat. Die Offenheit der Mitwirkenden beider Seiten verleiht dem Film – neben seinem sorgfältigen Konzept und der klaren ästhetischen Aufmachung – seine Qualität, die ein im Verborgenen gehaltenes Thema ins Licht der Öffentlichkeit rückt und zum Diskussionsgegenstand macht.