Porträt 28. Dezember 2023, von Veronica Bonilla Gurzeler

Mit Pinsel und Farbe gegen die Angst

Migration

Geflüchtete haben oft Traumatisches erlebt. Cristina Roters hilft ihnen mit Mal- und Märchenbegleitung, wieder Vertrauen aufzubauen

Wie fühlt sich ein Pinsel so an? Die meisten Migrantinnen, die zu Cristina Roters kommen, haben noch nie gemalt. Sie stammen aus vielen Regionen, von Afghanistan über Sri Lanka bis Afrika. Manche leben schon lange in der Schweiz, andere sind vor Kurzem hierher geflüchtet.  

Alle leiden, meist psychisch und oft auch körperlich. Unter Schmerzen, schlaflosen Nächten, quälenden Ängsten. «Wir malen, damit es dem Herzen wieder gut geht», erklärt die 58-jährige Maltherapeutin und Märchenpädagogin den Frauen in der ersten Stunde. Mit einer Bildgeschichte. «Das verstehen sie, auch ohne Deutsch zu können.» 

Roters hat mit dem Kunsttherapeuten Joseph Aschwanden 2018 in Solothurn Zaffe ins Leben gerufen. Das Projekt bietet therapeutische Begleitung für geflüchtete Menschen, die im Herkunftsland oder auf der Flucht Schlimmes erlebt haben und sich fern von der Heimat und der Familie in einem fremden Land zurechtfinden müssen.

Vom Meer in die Hügel

Das Empfinden, entwurzelt zu sein, kennt Roters selbst. Mit 17 Jahren hat sie die kleine Insel Menorca verlassen und ist nach einem Umweg über Deutschland in die Schweiz gekommen, mit wenig mehr als ihren Farben und einem Schatz Märchen im Gepäck. «Obwohl ich sofort wusste, dass ich hierbleiben wollte, fühlte ich mich im modernen Land fehl am Platz, dies auch, weil ich die Sprache nicht verstand.» Roters war am Meer aufgewachsen, hatte einen Grossvater, der Fischer war, und eine grosse Liebe zur Natur. «Die Wälder, die grüne Landschaft und die Menschen – das gefiel mir in der Schweiz», erzählt sie. 

In Bern liess sich die junge Frau zur Malpädagogin und Märchenerzählerin ausbilden, und sie machte sich selbstständig: Roters arbeitet als Bilderbuchautorin, Illustratorin, Geschichtenerzählerin und Malbegleiterin. Ihre Lebens- und Berufserfahrungen fliessen heute in ihre Arbeit bei Zaffe ein. Zaffe ist ein alter Begriff für Salbei. Die beliebte Heilpflanze kann überall Wurzeln schlagen, und sie wächst auch unter schwierigen Bedingungen.

Diese Fähigkeiten will Roters vermitteln. Die geflüchteten Frauen kommen einzeln in die Malsitzungen. Am Tisch im winzigen Raum, der gerade durch seine Kleinheit Schutz vermittelt, lässt Roters sie zuerst mit dem Ort und dem Material vertraut werden. «Die Frauen haben ein grosses Bedürfnis, sich mitzuteilen, Malen gibt ihnen dazu eine Möglichkeit.» Einige malen gleich zu Beginn ihre Geschichte, andere lassen sich Zeit damit.


Das Ziel ist, Frieden zu schliessen mit dem, was geschehen ist.

Erst wenn Roters merkt, dass das Vertrauen vorhanden ist, schaut sie mit ihnen die traumatischen Erfahrungen an. Um sich diesen zu stellen, sei es wichtig, dass die Frauen etwas Einfaches malten, bei dem sie nicht allzu viel studieren müssten. «Manchmal lasse ich sie die Farbe mit den Fingern aufs Papier bringen, damit sie sich daran festhalten können», führt sie aus und lässt dabei ihre Hände langsam kreisend über die Tischfläche gleiten.

Bildersprache der Seele

Auch Märchen und alte Weisheitsgeschichten, die etwas mit der Situation der betreffenden Frau zu tun haben, setzt sie immer wieder ein. «Märchen reden die Bildersprache der Seele», ist Roters überzeugt. Besonders hilfreich seien die Volksmärchen aus der Heimat der Frauen, die sie auf der Datenbank der Mutabor-Märchenstiftung findet. Sie erinnern die Menschen daran, wie wichtig es ist, ihre Wurzeln zu pflegen und zu nähren.

«So wird die Seele, die eingehüllt war in Schmerzen, wieder frei und kann die Führung übernehmen», sagt Roters. Das Ziel müsse immer sein, Frieden zu schliessen mit dem, was geschehen sei, und sich wieder für das Leben zu öffnen. Für ihre traumabegleitende Arbeit mit Märchen wurde sie 2023 mit dem Schweizer Märchenpreis ausgezeichnet.