Recherche 15. März 2024, von Hans Herrmann

«Die Drahtzieher des IS sind noch immer aktiv»

Gewalt

Dass sich jemand ideologisch so radikalisiere, dass er bereit sei zu töten, sei in der Schweiz selten: Das sagt Extremismusexpertin Miryam Eser Davolio zur Messerattacke in Zürich.

Am 2. März hat ein 15-jährger Schweizer mit tunesischen Wurzeln einen orthodoxen jüdischen Mann in Zürich mit einem Messer lebensgefährlich verletzt. Der mutmassliche Täter befindet sich in Untersuchungshaft. Vor seiner Attacke hatte er sich in einem Video als Angehörigen des Islamischen Staats (IS) bezeichnet und zu Angriffen gegen Juden und Ungläubige aufgerufen. Das schwer verletzte Opfer befindet sich unterdessen ausser Lebensgefahr. Miryam Eser Davolio, Professorin für Soziale Arbeit am Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, ist Expertin für Extremismus, Radikalisierung und Jugendgewalt, dazu für Migration und Integration. Im Gespräch mit «reformiert.» beantwortet sie Fragen rund um diese Tat.

Es ist davon auszugehen, dass die Messerattacke in Zürich im Zusammenhang mit dem Krieg in Gaza erfolgte. Ist diese Vermutung plausibel?

Ja, davon ist auszugehen, auch wenn man es noch nicht wirklich weiss. Der Krieg in Gaza zwischen Israel und der Hamas weckt starke Emotionen, und die muslimischen Nachrichtensender verstärken diese Gefühle, indem sie antiisraelische und antiwestliche Narrative verbreiten. Hinzu kommen die Kriegsbilder, die das Leid der eingepferchten und bombardierten Menschen im Gaza-Streifen zeigen. Das führt bei vielen Menschen zur Solidarisierung mit den zivilen Opfern des Krieges. Ganz besonders auch bei Muslimen, die mit ihren palästinensischen Glaubensbrüdern und -schwestern mitleiden.

Eine solche Tat ist die Spitze eines Prozesses.
Miryam Eser Davolio

Solidarisierung mit Palästina führt ja nicht automatisch zu einem Angriff auf einen Juden in der Schweiz. Wie kommt ein junger Mensch dazu, sich derart zu radikalisieren, dass er zu einer solchen Tat schreitet?

Eine solche Tat ist die Spitze eines Prozesses. Es gibt Menschen, die sich radikalisieren und dann irgendwann auch wieder von extremen Positionen abrücken. Nur sehr wenige begehen schliesslich Gewalttaten. Bei einer Radikalisierung kommt oft einiges zusammen: soziale Marginalisierung, schwerwiegende Lebenskrisen, allenfalls auch Perspektivlosigkeit und Isolation. Solche Menschen sind besonders anfällig für die Annäherungsversuche von Rekruteuren radikaler Organisationen, sei es auf Social Media, sei es im realen Leben. Die Anwerber stellen den Frustrierten und Abgehängten ein neues Leben im Dienst einer angeblich höheren Sache in Aussicht – was dem verminderten Selbstwertgefühl der Angesprochenen guttut und sie mit Sinn erfüllt.

Dann sind solche Organisationen also auch in der Schweiz aktiv?

Ja, sicher. Über Social Media ist es sowieso kein Problem, das kann ebenso gut von Rekruteuren aus dem Ausland ausgehen, aber auch persönliche Kontakte finden meist statt, um die Person in ihren Bann zu ziehen. Und irgendwann werden die Kontaktierten aufgefordert zu zeigen, dass sie es mit ihrer Gesinnung wirklich ernst meinen und bereit sind, sich zum Beispiel für ihre muslimischen Brüder mit einer radikalen Tat einzusetzen.

Sind vor allem junge Männer anfällig?

Tendenziell ja. Aufgrund einer Erhebung in der Schweiz 2018 – sie fand damals im Zusammenhang mit dem Jihadismus statt – sind es vielfach Männer im Alter zwischen 24 bis 35 Jahren, die sich islamistisch radikalisieren. Es gibt aber auch den einen und anderen 50-Jährigen, zudem einzelne Frauen. Junge sind aber in der Regel anfälliger für die Botschaften der Anwerber.

Von wie vielen radikalen Islamisten ist in der Schweiz auszugehen?

Bei der Erhebung 2018 waren es 130 Personen. Diese Zahl ist in der Zwischenzeit nicht etwa geschrumpft, sie ist stabil.

Man hört und liest sogar von einem Erstarken des Islamischen Staats. Teilen Sie diese Einschätzung?

Ja, das ist aktuell schon so. Aus unseren Medien ist der IS in den letzten Jahren mehr oder weniger verschwunden, aber tatsächlich sind die Drahtzieher noch immer aktiv, und jetzt wieder besonders. Der Krieg in Gaza, die schlimmen Zustände, die schrecklichen Bilder kommen überall in den Nachrichten und wühlen die Menschen auf. Diese Stimmung weiss der IS für sich auszunutzen, indem er antiwestliche und antijüdische Ressentiments anheizt und verbreitet. Manche Menschen lassen sich davon anstecken und radikalisieren sich. Das ist ein weltweites Phänomen.

Das Eis, auf dem sich betont israelkritische Leute bewegen, ist derzeit sehr brüchig.
Miryam Eser Davolio

Ideologisch motivierte Gewalttaten rufen zuweilen Nachahmer auf den Plan. Ist in der Schweiz nun mit weiteren solcher Attacken zu rechnen?

Das lässt sich natürlich schwer voraussagen. Eine 2019 veröffentliche repräsentative Befragung an Schweizer Schulen und quer durch alle Bildungsgruppen hat aber immerhin gezeigt, dass rund 43 Prozent der 17-bis 18-jährigen  Muslime den Westen ablehnen, aber bloss rund drei Prozent haben sich gegen die Schweiz geäussert. Dieser Unterschied lässt sich so erklären, dass sie den «Westen» eher in Staaten mit kolonialer Vergangenheit repräsentiert sehen – respektive in solchen, die in militärische Interventionen in muslimischen Ländern involviert sind. Zudem fühlen sie sich in der Schweiz alles in allem integriert und sehen auch die Chancen, die das Land ihnen bietet.

Im Moment drückt sich radikale Gesinnung vor allem in Antisemitismus aus. In welchen Milieus ist dieser besonders präsent?

Naturgemäss im Rechtextremismus, aber es gibt auch in linken Kreisen eine Anti-Israel-Haltung, die zuweilen in Antisemitismus kippen kann. Das Eis, auf dem sich betont israelkritische Leute bewegen, ist derzeit sehr brüchig. Hinzu kommt das islamistische Milieu, das wie bereits dargelegt ebenfalls ein Nährboden für den aktuellen Antisemitismus ist.

Hat der Antisemitismus auch eine religiöse Komponente, oder geht es hier vor allem um Politik und überlieferte Ressentiments?

Die Rolle der Religion wird meiner Ansicht nach überschätzt. Wichtiger sind politische Motive; man nimmt Ungerechtigkeiten und Unterdrückung wahr, gegen die man vorgehen will. Dieser Kampf hat zwar oft einen religiösen Anstrich, aber die Radikalisierten wissen oft sehr wenig über die eigene Religion.

Was macht die Gefahr einer Radikalisierung angesichts des Gaza-Kriegs mit der Gesellschaft?

Wir müssen uns als Gesellschaft bewusst sein, dass uns dieses Thema polarisieren kann. Viele fühlen sich überfordert, spüren ihre Ohnmacht und wissen, dass in den Diskussionen überall Fettnäpfchen lauern. Die Vorsicht beim Reden über den Gaza-Krieg ist begründet. Wichtig ist, dass wir Brücken bauen, statt die Fronten weiter zu verhärten.

Und die Radikalisierung? Was lässt sich gegen diese unternehmen?

Es gilt, dafür zu sorgen, dass es gar nicht erst zu einer Radikalisierung kommt. Etwa mit einer entsprechenden Medienbildung in der Schule. Die Kinder und Jugendlichen sollen lernen, die manipulativen Tricks der Anwerber im Internet zu durchschauen. Eine weitere präventive Massnahme besteht darin, Menschen grundsätzlich unvoreingenommen und mit Respekt zu begegnen, auch solchen am Rand oder aus einem anderen Kulturkreis. Wer nicht diskriminiert wird, sich respektiert und integriert fühlt, ist resilienter gegenüber extremistischen, hasserfüllten Botschaften und Gewaltaufrufen. Das macht es für die Rekrutierer von extremistischen Gruppen schwieriger, mit ihren Narrativen anzudocken, ihnen wird so der Nährboden entzogen.