Recherche 21. Oktober 2020, von Hans Herrmann

Neuer Blick auf das architektonische Wahrzeichen von Bern

Kunstgeschichte

Das Berner Münster ist noch europäischer als bisher gedacht. Ein neues Buch dokumentiert die aktuellen Erkenntnisse.

Das Berner Münster ist das weithin sichtbare architektonische Wahrzeichen der Bundesstadt. Die ab 1421 erbaute Grosskirche ist zugleich ein gutes Stück Europa: Dies zeigen jüngste Untersuchungen. Die stilistischen Einflüsse sind vielfältig und beschränken sich nicht nur auf den süddeutschen Raum zwischen Strassburg, Ulm und Regensburg, sie gehen sogar weiter bis nach Wien und Prag. Die Baumeister des Spätmittelalters waren mobil und an Projekten in unterschiedlichen Regionen beteiligt. Sie lernten laufend dazu und integrierten neue Ideen in ihr Schaffen. Dies gilt auch für die Architekten, die seinerzeit am Berner Münster mitbauten.

Ein Team hat das repräsentative und historisch bedeutsame Bauwerk im Rahmen eines breit angelegten Projekts neu erforscht. Entstanden ist im Zuge der sechsjährigen Forschungsarbeiten ein reich illustriertes Buch, das die Ergebnisse auf 650 Seiten präsentiert. Der als Standardwerk für die kommenden Jahrzehnte konzipierte Band ist jetzt auf dem Markt. Er behandelt das erste Jahrhundert des Münsters von der Grundsteinlegung 1421 bis zur Berner Reformation 1528.

Diesmal ist es Teamwork

In den vergangenen 60 Jahren galt Luc Mojons Kunstdenkmälerband als Standardwerk zum Berner Münster. Der Autor forschte und schrieb damals noch allein; im Gegensatz dazu handelt es sich beim neuen Buch um ein interdisziplinäres Gemeinschaftswerk. Geleitet wurde das vom Nationalfonds, der Burgergemeinde und der Bernischen Denkmalpflege-Stiftung mitfinanzierte Projekt von Bernd Nicolai und Jürg Schweizer. Nicolai ist Professor für Kunstgeschichte an der Universität Bern, der ehemalige kantonale Denkmalpfleger Schweizer ist Präsident des Berner Münsterbaukollegiums.

«Mit der Universität und der Münsterbauhütte kamen Wissenschaft und Praxis zusammen; diese enge Zusammenarbeit führte zu vertieften und neuen Erkenntnissen», sagt Nicolai. Das Team konnte auf Unterlagen zurückgreifen, die zu Mojons Zeiten noch nicht existierten, und verbesserte Untersuchungsmethoden anwenden, zum Beispiel für die Altersbestimmung von Holz. Hinzu kam, dass während des Forschungsprojekts zufällig gerade der Chor des Münsters restauriert wurde. Die dabei zu Tage geförderten Befunde konnten ebenfalls in das Buch einfliessen.

Nach welcher Methode errichteten die Bauhandwerker des Mittelalters eigentlich das spektakuläre Chorgewölbe? Diese Frage ist gerade auch für Laien besonders spannend. Darauf gibt das neue Buch eine überraschende Antwort. Bisher ging man davon aus, dass zuerst die Sandsteinrippen aneinandergefügt und zuletzt die dekorativ gestalteten Schlusssteine eingesetzt wurden – die fast magischen Angelpunkte, die die ganze Konstruktion zusammenhalten.

Die neuen Untersuchungen zeigen, dass die Fachleute genau umgekehrt vorgingen. Zuerst bauten sie unter der zu wölbenden Decke einen provisorischen Zwischenboden. Dann errichteten sie auf dieser Etage ein Gerüst, das bereits die Rippenstruktur des künftigen Gewölbes aufwies. Auf die Kreuzungspunkte kamen die Schlusssteine zu stehen; erst danach fügte man Stück für Stück die Rippensegmente an. Diese, aber auch die Schlusssteine wurden so lange nachbehauen, bis sie passten.

Der Bau des Münsters war von Anfang an ein Prestigeprojekt.
Bernd Nicolai

Die Berner Patrizier leisteten sich für ihr Münsterprojekt die besten Baumeister, die sie bekommen konnten. Matthäus Ensinger und der weit gereiste Erhart Küng waren gefragte Koryphäen. Der Bau des Münsters sei von Anfang an ein Prestigeprojekt gewesen, erklärt Bernd Nicolai. Das Gotteshaus diente also nicht nur geistlichen Zwecken, sondern auch der Selbstdarstellung jener Oberschicht, die im aufstrebenden Stadtstaat Bern etwas zu sagen hatte.

Aussen schlicht, innen reich

150'000 Gulden sprachen die Auftraggeber als Kostendach. Für diesen Preis sollte das grosse Werk innert hundert Jahren vollendet sein. Für die damalige Zeit war dies ein sportlicher Zeitplan. Das Konzept lautete: aussen schlicht, innen prunkvoll. Für die prächtige Innenausstattung kamen begüterte Patrizierfamilien auf, die nicht nur die Seitenkapellen mitsamt Altären, Heiligenbildern und sonstiger Ausstattung stifteten, sondern auch des Messdienst finanzierten.

Die Rechnung ging auf, der Bau war am Vorabend der Reformation – 100 Jahre nach der Grundsteinlegung – weitgehend fertig, nur der Turmhelm sollte noch lange auf seine Vollendung warten. Wie ging es nach der Reformation mit dem Münster weiter? Zu diesem Thema ist bereits ein zweiter Band geplant.

Bernd Nicolai, Jürg Schweizer (Hrsg.): Das Berner Münster. Das erste Jahrhundert: Von der Grundsteinlegung bis zur Chorvollendung und Reformation (1421-1517/1528). Schnell & Steiner, Regensburg, 2019. 650 Seiten, ca. 95 Franken