Recherche 05. Februar 2024, von Hans Herrmann

Bildung und Religion stehen zunehmend im Spannungsverhältnis

Gesellschaft

Laut Statistik gibt es in gebildeten Milieus besonders viele Konfessionslose. Der Glaube stehe bei Gebildeten zu Unrecht unter Generalverdacht, sagen Theologinnen und Theologen.

Protestantisch oder katholisch? Diese Frage wurde in der Schweiz noch in den 1980er-Jahren ungefähr hälftig mit «protestantisch» oder «katholisch» beantwortet. Heute ist es, nicht zuletzt wegen der Anwesenheit weiterer Religionsgemeinschaften, anders. Hinzugekommen sind auch die Konfessionslosen. Ursprünglich rebellische «Exoten», stellen sie jetzt erstmals die grösste Gruppe, wie das Bundesamt für Statistik vermeldet.

Wissen kontra Glauben

Dass bei alledem auf dem Land die Kirche noch immer mitten im Dorf steht, ist bekannt. Ebenso, dass ältere Jahrgänge mehr mit Kirche am Hut haben als Jüngere. Gemeinhin wird auch vermutet, dass wissenschaftlich Gebildete Religiöses eher ablehnen als Menschen aus nicht universitären Kreisen.

Die Statistik bestätigt diese Mutmassung, zumindest mit Bezug auf die jüngere Generation: Junge, die auf Tertiärstufe ausgebildet sind, also eine Universität oder eine Fachhochschule absolviert haben, sind zu 41 Prozent konfessionslos. Bei Altersgenossinnen und -genossen mit Berufslehre beträgt dieser Anteil nur 30,9 Prozent, und jene ohne erlernten Beruf gehören lediglich zu 24,2 Prozent keiner Konfession an.

Dieser Befund scheint ein Klischee zu bedienen, dem man in Diskussionen rund um Kirche und Religion immer wieder begegnet: Glauben sei doch nur etwas für weniger Gebildete. Die Gebildeten aber seien aufgeklärt und folgten «der» Wissenschaft, sie brauchten keine religiöse «Märchenstunde» mehr, um die Welt zu erklären und glücklich zu sein.

«Not lehrt beten»

Was ist von solchen Aussagen zu halten? Isabelle Noth ist Professorin für Seelsorge, Religionspsychologie und Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Dass Bildung in einer Wechselbeziehung mit Religion und Kirchenmitgliedschaft steht, bestätigt sie. Das gelte aber auch für Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensdauer. «Wer fragt, ob Kirche primär für weniger Gebildete ist, kann somit genauso gut fragen, ob Gesundheit vor allem für Gebildete ist», führt sie aus.

Zur Erklärung dieser Zusammenhänge gehe ein Aspekt gerne verloren: Religion, Kirchen und Glaube dienten der Lebensorientierung bei Sinnfragen. Im Volksmund heisse es: Not lehrt beten. «Nun sind höher Gebildete im Durchschnitt gesünder, fühlen sich wohler und leben länger.» Aufgrund ihrer sozioökonomischen Vorteile seien sie im Schnitt seltener mit existentiellen Fragen wie Krankheit, Armut und Diskriminierung konfrontiert als weniger Privilegierte.

Schleyermachers Verteidigungsschrift

«Bei alledem gehen Religion und Kirche jedoch nicht im Leid auf», hält Isabelle Noth fest. Und es seien nicht nur die Vorteile einer höheren Bildung, sondern insbesondere auch Vorurteile, die zu einer Geringschätzung von Kirche und Religion führten. Dies habe kein Geringerer als der berühmte Theologe Friedrich Schleiermacher den Gebildeten unter ihren Verächtern in seinem Werk «Über die Religion» schon vor über 200 Jahren ins Stammbuch geschrieben.

Und doch halten viele höher Gebildete an ihrem negativen Urteil gegenüber Kirche und Glaube fest – in akademischen Milieus ist man zunehmend überzeugt, dass Szientismus, also eine auf strikter Naturwissenschaftlichkeit gründende Haltung, die besten Antworten auf alle Fragen liefert. Der Burgdorfer Pfarrer Manuel Dubach, vielen bekannt durch seine Auftritte im «Wort zum Sonntag», kennt das Thema aus der eigenen Biografie.

Entweder man war schlau, oder man war fromm.
Manuel Dubach

«Ich denke hier vor allem an Gymer-Zeiten: Getrieben von jugendlichem Übermut und der Begeisterung für sich mehrende Erkenntnis, waren Glaube und Wissen für mich zwei Kategorien, die sich gegenseitig ausschliessen», berichtet er. Physikunterricht versus Bibelgruppe, gewissermassen. «Entweder man war schlau, oder man war fromm.»
Mit dem Theologiestudium änderte sich diese Sicht für Dubach persönlich. «Hier begegneten mir verschiedene Menschen, die in sich eine hohe Bildung, einen grossen Intellekt und einen eindrücklichen Glauben vereinten.»

Verschiedene Arten von Fragen

Das Argument, dass man mittlerweile die Welt mit Hilfe der Naturwissenschaften erklären könne und deswegen keine Religion mehr brauche, greift für den Pfarrer klar zu kurz. Seiner Ansicht nach gehe es nicht um ein Entweder-Oder. «Ja, die Welt gehört erklärt», betont er. Aber es gebe verschiedene Arten von Fragen. Solche, die das Materielle beträfen, und solche, die sich mit dem Immateriellen auseinandersetzten. «Will ich wissen, wie die Welt entstanden ist, wende ich mich an die Naturwissenschaften. Frage ich nach der Rolle von uns Menschen in dieser Welt und dem damit verbundenen Sinn, hat die Theologie – neben anderen Disziplinen – durchaus ein paar interessante Ansätze zu bieten.»

Bildung dank Reformation

Nicht zuletzt liegt es in der reformatorischen Tradition, dass sich Glaube und Vernunft nicht ausschliessen, sondern ergänzen und gegenseitig beflügeln. «Reformierter Glaube ist vernunftorientierter Glaube», sagt Judith Pörksen, Synodalratspräsidentin der Reformierten Landeskirchen Bern-Jura-Solothurn. Und wirft einen kurzen Blick auf die Reformationsgeschichte: «Da jeder Mensch die Möglichkeit haben sollte, selber die Bibel zu lesen und sich dazu seine Gedanken zu machen, forderten die Reformatoren die Schulbildung für alle – und setzten sich letztlich damit durch.» Gerade im Protestantismus seien Bildung und das eigenständige Denken traditionell ein hohes Gut – und für die politische Form der Demokratie eine gute Voraussetzung.

Christlicher Glaube ist auch logisch: Er orientiert sich an der Logik der Liebe.
Judith Pörksen

Man dürfe, mahnt Pörksen an, die Logik der Vernunft auch nicht überbewerten. Schlimmstenfalls könne sie auch völlig in der Irre gehen. In einem drastischen Beispiel verweist sie auf den Holocaust, der in Bezug auf die Bildung eine bittere Erkenntnis gebracht habe: «Hoch gebildete, humanistisch geschulte Männer erdachten sich die Ermordung von Millionen von jüdischen Menschen.» Christlicher Glaube dagegen wisse sich der Logik der Liebe verbunden.

Im Übrigen beinhalte ein hoher Bildungsstand in der heutigen Schweiz nicht automatisch auch religiöse Bildung. «Sieht man sich den geringen Stellenwert religiöser Bildung in unserem Schulsystem an, muss man dies bezweifeln.» Entsprechend herrsche das weit verbreitete Vorurteil, dass «Glaube» gleichbedeutend sei mit «etwas für wahr halten». Damit wollten Gebildete – zu Recht – nichts zu tun haben. «Dagegen ist Glaube, wie ihn die reformierte Kirche lebt, ein Beziehungsbegriff.» Die Logik des christlichen Glaubens sei die Logik der Liebe.

Späte Rückkehr zur Religion

Allerdings wäre es falsch, das aktuelle Phänomen der Religionsflucht allein mit Blick auf den Bildungsstand erklären zu wollen. Eine Rolle spielt auch das Alter. Gar nicht so selten kommt es vor, dass sich Menschen, die sich aus dem aktiven Berufsleben zurückgezogen haben, angesichts ihrer plötzlich in den Fokus gerückten Begrenztheit auf einmal für ihre angestammte, bisher aber verschmähte Religion zu interessieren beginnen. Oder zumindest für Fragen der Spiritualität und Transzendenz.

Das jedenfalls beobachtet Pfarrer Manuel Dubach. Und auch, dass die späte Beschäftigung mit Kirche und Religion im Bildungsbürgertum «oft mit einem gewissen kritischen ‹Sicherheitsabstand›» stattfinde. Im Sinne von: Kirche eher Nein, Christentum als überliefertes Kulturgut eher Ja. «Ist jemand zuvor aus der Kirche ausgetreten, kommt es nur in seltenen Fällen zu einem Wiedereintritt», weiss Dubach aus beruflicher Erfahrung. «Aber es geschieht.» Das habe er an seiner Wirkungsstätte in Burgdorf schon verschiedene Male erlebt.