Recherche 28. Februar 2024, von Marius Schären

Spielball zwischen Verzweiflung und Hoffnung

Kino

Die polnische Regisseurin Agnieszka Holland hat ein Drama geschaffen, das mit grösster Intensität von der Realität der Flüchtenden im grossen Wald zu Weissrussland erzählt.

Es ist ein Spielfilm, also Fiktion – aber eigentlich ist es ein nachgespielter Dokumentarfilm. Denn für jede Szene, heisst es in den Informationen zum Kinofilm «Green Border» (Polnisch «Zielona Granica», Grüne Grenze), hätten die Regisseurin Agnieszka Holland, Koautorin Gabriela Łazarkiewicz-Sieczko und Koautor Maciej Pisuk ein Vorbild aus der Realität genommen.

Das Team recherchierte im Vorfeld der Dreharbeiten intensiv, sprach mit Beteiligten auf allen Seiten: Grenzschützern, Geflüchteten, Menschenrechtsaktivistinnen, Ärzten. So entstand schliesslich ein unglaublich eindringliches, intensives und mitnehmendes Stück über Migrationsdramen von 2021 – die nach wie vor anhalten – im fast unendlich scheinenden Waldgebiet von Białowieża an der Grenze zwischen Polen und Weissrussland.

Green Border

Die grüne Grenze – im wahrsten Sinn des Wortes: Der riesige Wald zwischen Belarus und Polen ist ein Ziel auf dem Weg von Bashir und Amina und ihrer Familie aus Syrien. Von Versprechen des belarussischen Diktators Lukaschenko angelockt, haben sie 2021 einen Flug nach Minsk gebucht, um schliesslich zu ihren Verwandten in Schweden zu gelangen. Aber die Verheissung wird zur Falle. Im sumpfigen Niemandsland stecken sie mit Tausenden anderen Geflüchteten fest – und werden zum Spielball zwischen den beiden Ländern, abgeschnitten von fast jeder Hilfe.

Green Border (Zielona Granica). Mit Jalal Altawil, Maja Ostaszewska, Behi Djanati Atai, Mohamad Al Rashi, Dalia Naous, Tomasz Włosok. Regie: Agnieszka Holland, in Zusammenarbeit mit Kamila Tarabura und Katarzyna Warzecha. Drehbuch: Maciej Pisuk, Gabriela Łazarkiewicz-Sieczko, Agnieszka Holland. 2023, 152 Minuten, Originalsprache: Polnisch, Arabisch, Englisch, Französisch. Jetzt im Kino. Bei der Uraufführung am Filmfestival in Venedig 2023 wurde der Film mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet.

Anfangs scheint alles gut zu werden. Die syrische Familie kommt mit dem Flugzeug in der weissrussischen Hauptstadt Minsk an. Schon bald würden sie im schwedischen Malmö bei ihren Verwandten sein, freuen sie sich.

Doch dann fahren sie in den Wald, und das Drama beginnt. Statt in hoffnungsvollem Grün ist der ganze Film in schwarz-weiss gestaltet. Beziehungsweise vor allem in eher dunklen Grautönen aller Schattierungen. Dieses Stilmittel steigert noch einmal, was sich ohnehin schon in der Handlung des Films, dem Erleben der Menschen darin zeigt: eine unglaubliche Intensität, emotionale Talfahrten, Leid, Hoffnung, Verzweiflung, Unverständnis, Machtspiele, Zynismus, Erschütterung, Menschlichkeit.

Grenzwächter Jan, Psychotherapeutin Julia

Die Erzählung bleibt nicht bei der flüchtenden Familie. Eine andere Perspektive gibt es durch Jan, den Beamten des polnischen Grenzschutzes, der selbst aus der Gegend stammt. Seine Frau ist schwanger, sie bauen ein Haus. Doch die Gewissheiten ihres Lebens sind immer mehr in Frage gestellt durch die Eskalation an der Grenze.

Und da ist die Psychotherapeutin Julia, nach Ostpolen gezogen nach einem Schicksalsschlag, um sich neu einzurichten in der Abgeschiedenheit. Ungeplant stösst sie zu einer Aktivistinnengruppe. Auch wenn es verboten ist, versuchen sie Flüchtende im weiten Wald mit dem Nötigsten zu versorgen.

«Green Border» – Trailer

2021 brachte das belarussische Regime tatsächlich gezielt Flüchtlinge an die Grenze zur EU. Europa und Polen unter Druck zu setzen war das Ziel. Polen stieg ein – rief vom Herbst 2021 bis Juli 2022 gar den Ausnahmezustand aus, bugsierte Flüchtlinge laufend zurück nach Weissrussland. Weder Journalisten noch Hilfsorganisationen erhielten Zugang zum Grenzgebiet. Da waren hingegen drei Kilometer Sperrzone, ein 5,5 Meter hoher Zaun, Stacheldraht, Drohnen, Kameras und Tausende Soldaten.

Die Regisseurin Agnieszka Holland bleibt aber in der Erzählung nicht im Schwarz-Weiss haften. Die Aktivistinnen sind keine Heiligen, die Grenzwächter keine grausamen Sadisten. Viel mehr kommt immer wieder überall, auch in der Verzweiflung und scheinbaren Gefühlskälte, die Hoffnung zum Vorschein, die Hoffnung auf eine andere Welt.

Die Giraffe im Wald

Zwar sagt der Kommandant zu seinen Grenzwächtern einmal: «Diese sogenannten Flüchtlinge sind die Waffen von Putin und Lukaschenko. Das sind keine Menschen. Das sind lebende Projektile.»

Doch in einer anderen Szene spricht die Aktivistin Stefka mit dem syrischen Kind Nur via Übersetzungsfunktion des Smartphones. Ob es Tiere im Wald gesehen habe, fragt die Polin. Voller Überzeugung sagt Nur: «Ja. Eine Gazelle, eine Antilope und eine Giraffe.» Und alle lachen in der Dunkelheit unter den Zweigen.

Und in einer der letzten Szenen werden zwei Aktivistinnen Zuku und Julia im Auto nachts im Wald angehalten von einem Polizisten. Erst antwortet nur die Fahrerin Zuku. Der Polizist ist misstrauisch, will hören, dass die Beifahrerin Polnisch spricht. Julia beginnt das Unservater zu rezitieren.

«Okay, verpisst euch», sagt der Polizist. Doch die beiden Frauen fahren gemeinsam fort, immer lauter: «Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in …» «Ich hab gesagt, verpisst euch!» Da sagt Julia: «Wir verpissen uns.»