Schwerpunkt 15. April 2021, von Christian Kaiser

Ein hässliches Findelkind zum Weissen Sonntag

Jahrestag

Vor zwei Jahren stand die Notre-Dame in Flammen. Redaktor Christian Kaiser stand damals geschockt davor. Nun hat er seine Notizen hervorgekramt und versucht zu verstehen.

«Mit so vielen Bäumen in der Stadt konnte man Tag für Tag den Frühling kommen sehen. Bis ihn eine Nacht mit warmem Wind plötzlich eines Morgens brachte.» Das schrieb Hemingway, als er vor knapp hundert Jahren in Paris lebte. Am Montag nach Palmsonntag war es so weit: Der eisige Wind hatte sich gelegt, der erste warme Tag des Jahres bahnte sich an, und das versprach laut Hemingway einiges: «Wenn der Frühling kam, gab es keine Probleme ausser dem, wo man am glücklichsten sein würde.»

Das Glück liegt an der Seine

Im kleinen Park um die Ecke bei meinem Hotel in Montmartre sang eine Amsel, und es hatten sich schon früh Pärchen aus allen Kontinenten eingefunden, um sich vor der Wand aus blauen Kacheln ablichten zu lassen. In weisser Schrift steht dort das Liebesbekenntnis in Hunderten von Sprachen: «Je t’aime», «Ich ha di gärn», «Inhobbok». Darüber auf dem grauen Verputz eine gemalte Blondine im blauen Abendkleid, die Schuhe in der Hand, mit der Sprechblase: «Aimer c’est du désordre...» – aha, zur Liebe gehört also auch die Unordnung. Trotzdem fordert die Blonde: «...alors aimons!» Also lasst uns lieben. 

Gestern war ich in Sacré-Cœur, heute sollte mein Ziel die der Muttergottes geweihte Kathedrale sein. Und ich wollte es bis dorthin Hemingway gleichtun, der in «Paris – ein Fest fürs Leben» geschrieben hatte: «Wenn ich mir etwas überlegen wollte, ging ich an den Quais entlang. Es liess sich leichter überlegen, wenn man ging.» Und so traf ich am Nachmittag eine befreun-dete indische Dichterin, und wir schlenderten diskutierend der Seine entlang, bis wir zu den Quais bei der Île Saint-Louis kamen. Dort hatten bereits etliche junge Pariserinnen und Pariser entschieden, dass das Seine-Ufer der beste Ort war, um am glücklichsten zu sein. 

Sonnenbaden, Gelächter, klirrende Gläser, Musik aus Boom-Boxen. Auch wir besorgten uns eine Baguette, Käse und eine Flasche Weisswein und stiegen die Treppe hinunter zum Quai d’Orléans. Bei einer Parkbank stiessen wir an – auf den Frühling, auf unser Wiedersehen nach Jahren, auf Paris.

Der Anfang vom Untergang

Dabei fiel mein Blick auf ein vorbeifahrendes Touristenschiff. Irgendetwas stimmte nicht, es war mucksmäuschenstill. Sämtliche Passagiere standen auf dem Oberdeck und starrten in Richtung der Île de la Cité. Ich folgte ihrem Blick: Nicht einmal hundert Meter vor uns stieg eine Säule aus grauem Rauch aus dem Dachstock der Notre-Dame empor. Entsetztes Raunen ging durch die Menge an beiden Ufern der Seine.  

Aus einer der Boxen der jungen Leute vor uns sang Alicia Keys «Girl on Fire», ich wähnte mich im falschen Film: «Filled with catastrophe, but she knows she can fly away: Oh, oh, oh, she got both feet on the ground ... and she’s burning it down ... and we’re burning it down.» 

Angefacht vom Wind, schossen die Flammen aus dem Dachstock. Bis die Sirenen der Feuerwehr erklangen, dauerte es eine gefühlte Ewigkeit. Wie angewurzelt schauten wir mit an, wie Feuerzungen ein Stück Weltkulturerbe verschlangen. Überall Schluchzen, meine Begleiterin hielt sich zitternd an meinem Arm fest, ihre Worte höre ich noch heute: «Oh no, this is Armageddon!» Armageddon – das bedeutete eine biblische Katastrophe alttestamentarischer Ausmasse, wenn nicht gar den Anfang vom Untergang des Abendlandes.

Und was hatte ausgerechnet mich genau zu diesem Zeitpunkt hierhergeführt? Weshalb traf mich mitten ins Mark, was vor meinen Augen geschah? Gibt es so etwas wie ein kulturelles spirituelles Erbe der Menschheit, an das ich angeschlossen war? Alles in allem handelte es sich hier um ein altes Gebäude aus Stein, Holz, Glas, Metall – Materie, deren Vergänglichkeit mir gerade vor Augen geführt wurde. Oder haben Sakralbauten eine Seele, und wenn ja, wie entsteht sie?

Am nächsten Tag schrieb Papst Franziskus an den Erzbischof von Paris, Michel Aupetit: Notre-Dame sei das «Herz der Stadt» und «das architektonische und spirituelle Erbe von Paris, Frankreich und der Menschheit». Das schwarze Loch im Zen-trum qualmte noch, als er sich den Wiederaufbau wünschte.   

Da sass eine Frau auf den Stufen vor der Kirche und weinte. Sie schrie ihren Schmerz hinaus: «Mon Dieu, ce n’est pas possible!»
Vor der Sacré-Cœur in Paris 16. April 2019

Fraternité und Maternité

2024 sei es so weit, und der Erzbischof von Paris beschwor die Fraternité, die Brüderlichkeit, die es jetzt gemeinsam aufzubauen gelte, einen Wert, der seit der Revolution an allen öffentlichen Gebäuden im Land angeschrieben stehe, und seinen Ursprung in der Paternité habe, in der väterlichen Liebe Gottes. Ich nehme an, bei einer der Gottesmutter geweihten Kathedrale sind die göttliche Mutterliebe und die daraus fliessende Schwesterlichkeit für alle mitgemeint. Ja, da war schon länger Feuer im Dach dieser Kirche, gerade lief im Kino ein Film über den Missbrauch an Nonnen.

Der heilige Blitzableiter

Meine Begleiterin sagte, sie sehe heute in den Flammen ihren Grossvater noch einmal brennen. Auf dem Scheiterhaufen. Agni, das Feuer, ist eine starke Gottheit bei den Hindus. Das Feuer, ein Gott? Einer mit einer kathartischen, befreienden Macht. Wozu, was muss hier gereinigt werden?  

Am erstaunlichsten war die Feuerentwicklung bei «la flèche», der erst im 19. Jahrhundert aufgesetzten spätgotischen Turmrakete, die beinahe minarettartig in den Himmel ragte, bis hoch auf 96 Meter, wo ein bronzener Gockel thronte. Der Hahn fungierte nicht nur als «pa-ratonnerre», Gegendonner, wie die Blitzableiter in Frankreich heissen, sondern auch als magischer Kraftspender, der dunkle Mächte abzuwehren hatte. In dem heiligen Blitzableiter waren dazu drei Reliquien eingebaut: eine Spitze aus der Dornenkrone, eine Reliquie von Saint Denis sowie eine der heiligen Genoveva, der Schutzpatronin von Paris.

Die Rakete zündete Stufe um Stufe und sank schliesslich ins Höllenfeuer hinein, das noch einmal Funken und Rauch aus seinem Innern spuckte wie ein Vulkan – mitten in der Stadt, wo alle Strassen Frankreichs zusammenführen, zum Nullpunkt. Point zéro.

Apokalypse statt Ostern?

Waren wir 2019 auch spirituell an einem Point zéro angelangt? Wenn man wollte, konnte man in diesem Brand schon auch Symbolisches sehen: Zerstörung zu Beginn der Karwoche statt eines erlösenden Osterfeuers; keine Erwachsenentaufen am Ostermorgen; kein Herzeigen der Reliquien, die seit fast einem Jahrtausend als kostbarer Schatz gehütet werden: die Dornenkrone Jesu, ein Splitter vom Kreuz, ein Nagel aus den Wundmalen.  

König Ludwig der Heilige hat die Dornenkrone Jesu erstanden und 1239 eigenhändig und barfuss zu Notre-Dame getragen. Saint-Louis war es auch, der bestimmte, dass sie nur an Ostern gezeigt werden darf. Ist es nicht sonderbar, Folterinstrumente zu verehren – oder brauchen die Menschen sichtbare Zeugnisse dafür, dass trotz allem die Gerechtigkeit am Ende siegt? Tatsächlich könnte man in dem Brand eine apokalyptische Warnung sehen, aber auch Hoffnung: So haben die Bienenstöcke auf dem Dach das Inferno wundersam überlebt. Und die Reliquien sind heldenhaft gerettet worden. Aussenmauern und Glasfenster hielten stand. Selbst der Schutzhahn tauchte in den Trümmern fast unversehrt wieder auf. 

Wie neugeborene Kinder

Dem Gebäude ein ewiges Denkmal gesetzt hat Victor Hugo mit seinem Roman «Notre-Dame de Paris», zu Deutsch bekannt als «Der Glöckner von Notre-Dame». Eigentlich spielt nicht der Glöckner Quasimodo die Hauptrolle, sondern die Kathedrale selbst, als schöner, mystischer Ort, der ein Eigenleben entfaltet. 

Ohne Hugos Roman gäbe es Notre-Dame vielleicht gar nicht mehr, denn erst nach seinem Erscheinen 1831 beschloss die französische Obrigkeit 1844, die nach den Revolutionswirren halb verfallene gotische Kathedrale wieder instand zu setzen. Hugos Notre-Dame ist im Grunde auf ein Fundament christlicher Werte gebaut. Sein wüster Star wird am Sonntag nach Ostern als Findelkind auf die Treppe von Notre-Dame gelegt und auf den Namen Quasimodo getauft. Namens gebend ist eine Stelle aus dem 1. Petrusbrief (2,2): «Quasi modo geniti infantes, alleluia: rationabiles, sine dolo lac concupiscite.»  

Die Zürcher Bibel formuliert das so: «Verlangt jetzt wie neugeborene Kinder nach der vernünftigen, unverfälschten Milch, damit ihr durch sie heranwachst zum Heil.» 

Die Stelle ist auch der Beginn des Chorals zum Weissen Sonntag, dem ersten Sonntag nach Ostern im katholischen Festkreis: «Wie neugeborene Kinder, Halleluja ...» Will heissen: Wir alle sind nach Ostern neugeborene Kinder, die sich jubelnd nähren lassen dürfen – das ist der Kern der Gotteskindschaft, der Gemeinschaft der Getauften und durch Christus Erlösten. 

Die Neugeburt beinhaltet eine Pflicht zur Barmherzigkeit: In einem Moment der Qual ist es die Zigeunerin Esmeralda, die sich als Einzige Quasimodos erbarmt und ihm Wasser gibt, und er wird sie später verteidigen bis aufs Blut. Die beiden, die als Kinder ohne leibliche Eltern leben mussten, zeigen Mit-gefühl füreinander. Ihr einziger Schutzraum: Notre-Dame, die Stein gewordene Gottesmutter.

Eine tiefe Wunde klafft

Spät in der Nacht sah ich weiter unten am Seine-Ufer den Schaden auch von der Seite; das Mittelschiff schien in Luft aufgelöst so ohne Dach und die Steinpfeiler schwarz wie die Nacht. Auf einer Wand erblickte ich einen weissen Schriftzug in riesigen Lettern: «Burning Church». Wer hatte das gesprayt und wann? Ich berührte die Farbe mit meinen Fingern, sie war trocken. Das war zu viel für mich, ich musste mich setzen. 

Am nächsten Morgen stieg ich hinauf zu Sacré-Cœur, wo ich zwei Tage zuvor ein geweihtes Buchssträusschen erhalten hatte. Ein paar Einheimische trugen ihre Yogamatten spazieren wie jeden Morgen.

Und doch war alles anders. Da sass eine Frau auf den Stufen vor der Kirche und weinte. Sie schrie ihren Schmerz hinaus: «Mon Dieu, ce n’est pas possible!» Mit Tränen im Gesicht starrte sie auf die Stadt: Aus einem schwarzen Loch auf der Île de la Cité stieg noch immer Rauch auf. Als hätte jemand der Stadt ins Herz geschossen.