Schwerpunkt 26. März 2024, von Hans Herrmann

Als Jesus in Jerusalem verloren ging

Jesus von Nazaret

Für Gläubige ist er der auferstandene Messias. Er interessiert und bewegt aber auch ausserhalb der Christenheit: Jesus aus Sicht von Volksschule, anderen Religionen und Literatur.

Im Ilfis-Schulhaus im Emmentaler Dorf Langnau geht die Pause zu Ende. Bei Marianne Jenny steht eine Lektion in NMG (Natur, Mensch, Gesellschaft) auf dem Programm. Ihre Erst- und Zweitklässler werden etwas über die zentrale Persönlichkeit des christlichen Glaubens erfahren. Vielen von ihnen ist sie nicht vertraut, denn immer mehr Familien sind heute konfessionslos, zudem gibt es in der Klasse das eine und andere Kind mit muslimischem oder hinduistischem Hintergrund.

«Ich erzähle euch heute eine Geschichte über Jesus», sagt die Lehrerin, nachdem die Kinder in einem Kreis Platz genommen haben. «Wer weiss etwas über ihn?»

Das mit dem Kreuz ist nicht so schön. Ich erzähle euch eine andere Geschichte von Jesus.
Marianne Jenny, Lehrerin

Nur ein Kind streckt auf. «Jesus wurde auf die Erde geschickt, aber später ist er wieder aufgestanden», sagt der Bub. Und weiter: «Die Leute haben ihn geärgert und an einem Kreuz aus Holz aufgehängt.»

«Du weisst schon viel», sagt Marianne Jenny. «Aber das mit dem Kreuz ist nicht so schön. Ich erzähle euch eine andere Geschichte von Jesus. Sie ist vor langer Zeit wohl so geschehen, und aufgeschrieben hat sie ein Mann namens Lukas.» Gelächter in der Runde, denn ein Bub in der Klasse heisst auch Lukas.

In der grossen Stadt

Die Geschichte, die Marianne Jenny ausgewählt hat, ist die Episode vom zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lk 2,41–52). Die Lehrerin schildert das ruhige Leben im kleinen Dorf Nazaret, wo der neugierige und aufgeweckte Jesus mit seinen Eltern lebte. Als er zwölf geworden sei, habe er erstmals das Passafest in Jerusalem besuchen dürfen. «Jerusalem! Das war eine Stadt mit vielen Menschen, vielen Häusern und einem Markt, wie er morgen bei uns in Langnau auch stattfinden wird. Und im Tempel sprachen Männer miteinander über Gott und die Welt.» Die Kinder im Kreis hören gespannt zu.

Als aber die drei Festtage um waren, kehrten die Leute von Nazaret in ihr Dorf zurück, mit ihnen Josef und Maria, die Eltern von Jesus. Erst als sie zu Hause waren, merkten sie, dass Jesus fehlte. Er war verloren gegangen. «Seid ihr auch schon einmal verloren gegangen?», fragt Jenny die Kinder. Viele bejahen es.

Ich würde den Kindern nie sagen, das müsst ihr jetzt einfach glauben.
Marianne Jenny, Lehrerin

Nun bekommen die Kinder die Aufgabe, sich zu überlegen, was sie an der Stelle von Josef und Maria tun würden. Nach einem Weilchen präsentieren sie ihre Ideen in der Runde: zurückkehren nach Jerusalem; dort suchen, wo Jesus zum letzten Mal gesehen wurde; bei Leuten nachfragen, ob sie einen zwölfjährigen Jungen gesehen hätten.

Endlich gefunden

Schliesslich löst die Lehrerin das Rätsel um den verschwundenen Jesus auf. «Er hatte gar nie das Gefühl, verloren gegangen zu sein», erzählt sie. «Er sass nämlich im Tempel bei den älteren Männern und diskutierte mit. Sie hätten den Jungen auch wegschicken können, aber nein, sie liessen ihn mitreden.» Als ihn die Eltern schliesslich gefunden hätten, sei er natürlich mit ihnen zurückgekehrt nach Nazaret.

Behutsam – das ist die Art, wie Marianne Jenny ihre Klasse an Jesus herangeführt hat. «Ich würde den Kindern nie sagen, das müsst ihr jetzt einfach glauben», erklärt sie nach der Lektion. Das im Fach NMG vorgesehene Kennenlernen religiöser Welten sei ja auch nicht gleichzusetzen mit konfessionellem Religionsunterricht.

Die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus habe sie ausgewählt, weil sich die Kinder damit identifizieren könnten. «In einer Menge verloren zu gehen, ist ihnen vertraut.» Die Aufmerksamkeit, mit der die Kinder zugehört haben, gibt ihr recht. Und wenn sie am folgenden Tag den Langnau-Märit besuchen, werden sie diesmal wohl speziell aufpassen, nicht verloren zu gehen wie einst Jesus in Jerusalem.