Meinung 25. September 2020, von Ralph Kunz

Zu wem beten wir?

Theologie

In der Zürcher Ausgabe von reformiert. hat Ralph Kunz eine Leserfrage beantwortet: «Warum nicht Jesus, sondern Gott anbeten?» In diesem Beitrag vertieft er das Thema.

«Sagt allezeit für alles dem Gott und Vater Dank im Namen unseres Herrn Jesus Christus!» (Eph 5,20).

Geht es um Spitzfindigkeiten, wenn Christen uneins sind, zu wem sie beten? Soll denn nicht jeder nach seiner Fasson selig werden? Ich würde kein Gesetz aus dieser Frage machen. Zugleich fände ich es schade, nicht über die Tiefen der Gottesbeziehung nachzudenken und dabei auch auf die Wolke der Zeugen achten, die vor uns gebetet haben. Was wir beten und wie wir beten ist jedenfalls nicht gleichgültig. Gebete bilden eine Art erste Theologie.

Lehrer und Beistand

Dabei ist Jesus Christus «als Bild des unsichtbaren Gottes» (Eph 1,15) im eigentlichen Sinn «bildend». Erstens ist er unser erster Gebetslehrer, und zweitens vermittelt uns die Jesus-Geschichte ein Bild von Gott. In und durch Jesus hindurch schauen wir Gott, der uns anschaut.

Wenn es im aaronitischen Segen heisst, «der Herr erhebe sein Angesicht auf uns» (Num 6,24f.), sehen Christen in diesem Angesicht das Antlitz des gekreuzigten Auferweckten. Der Heilige Geist ist sozusagen als Dritter im Bund das Versprechen, dass Gott durch Christus in uns wohnt. Im Johannesevangelium wird diese Beziehung Gottes zu uns hin durch ein Christuswort den Jüngern (und somit auch uns) zugesprochen. «Und ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Beistand geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit.» (Joh 14,16)

Wichtige Trinitätslehre

Dass der irdische Jesus betet, ist ein Zeichen seiner Menschlichkeit und Ausdruck seiner Gottesbeziehung. Wenn man den Galiläer, der Jesus gerufen wurde, mit Gott identifiziert, kippt dieses Bild. Es kippt aber auch, wenn man in Jesus nur den frommen Menschen sieht, der eine besonders innige Gottesbeziehung pflegte. Wie soll man Mensch und Gott in Jesus Christus unterscheiden, um nicht auf die eine oder andere Seite zu fallen?

Darauf antwortet die Trinitätslehre. Ihre Interpretation hat zu Auseinandersetzungen geführt, die vor allem die Expertinnen und Experten interessieren. Dennoch halte ich es für wichtig, die gebetstheologischen Grundlinien entlang der trinitarischen Unterscheidungen zu beachten.

Reformierte Anliegen

In der reformierten Tradition wird Gottes Alleinanspruch auf Anbetung sehr stark betont. Der Grund dafür: Die Reformatoren beschäftigte das Problem des Aberglaubens. Man soll den Schöpfer und nicht Geschöpfe anbeten. Im Helvetischen Bekenntnis formuliert Heinrich Bullinger: «Wir lehren, dass man den wahren Gott allein anbeten und verehren soll. Diese Ehre geben wir keinem andern nach dem Befehl des Herrn: ‹Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen› (Mt. 4,10) … Und zwar lehren wir, dass man Gott anbeten und verehren müsse, wie er› uns selbst gelehrt hat, ihm zu dienen, nämlich im Geist und in der Wahrheit (Joh. 4,23 und 24), nicht auf abergläubische Weise, sondern mit Aufrichtigkeit.» (Aus: Confessio Helvetica Posterior).

Vorbild und Abbild

Und was ist mit Jesus? Schon der der Kirchenvater Augustin betont: Jesus ist Exempel (Vorbild) und Sakrament (Abbild). Wir folgen Jesus nach und geben Gott die Ehre. Durch die Mahlgemeinschaft mit ihm bekommen wir Gottes Nähe zu spüren. Wenn wir Jesus ganz und gar in Gott hineinschöben, würde sich das Geheimnis seiner Vermittlung auflösen. Darum war es den Protestanten so wichtig, dass sie das Sakrament nicht anbeten.

Gerade in seiner Vermittlerstellung erweist sich Jesus Christus als unser Herr, oder mit dem Bild des Paulus als unser Haupt und wir als seine Glieder. Dabei ist und bleibt er uns als Jesus von Nazareth vor Augen. Darum ist sein Name wichtig.

«Darum hat Gott ihn auch hoch erhoben und ihm den Namen verliehen, der über jedem Namen ist, damit in dem Namen Jesu jedes Knie sich beuge, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne, dass Jesus Christus Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.» (Phil 2,9-11)

Unterschiedliche Prägungen

Ein altes Christuslied macht den Bezug von Jesu Namen zur Anbetung Gottes: «Es kommt der Tag, an dem alles, was Odem hat, Gott die Ehre gibt – in Jesu Namen.»

Zu wem wir uns heute im Gebet wenden, hängt auch von der Situation ab, in der wir sind. Stehe ich auf einem Berg und bewundere den Sonnenaufgang? Bin ich Bedrängnis und brauche einen göttlichen Freund? In manchen Kreisen ist es üblich, zum Herrn Jesus zu beten. Häufig ist auch die Anrede «himmlischer Vater». Andere bevorzugen ein schlichtes «Gott». Nicht allen kommt das kindliche «lieber Gott» über die Lippen. Wieder andere haben mit «dem Allmächtigen» ihre liebe Müh und Not.

Daran zeigen sich Unterschiede der Prägung und des Geschmacks. Ich meine, es sei kein Unglück, wenn wir in diesen Dingen verschieden empfinden. Solange wir einander nicht das Christsein absprechen, darf es auch eine Auseinandersetzung darüber geben, wie wir beten sollen. Und zwar in der Haltung einer «grosszügigen Orthodoxie», die Lust an Debatten hat, aber nicht einer Streitsucht frönt, die verletzt.

Eigene Erfahrungen

Vielleicht ist es beim Reden über das Beten angemessen, von sich selber zu sprechen, seine Prägung zu reflektieren und vielleicht auch seine Gewohnheiten zu hinterfragen. Mir zum Beispiel ist in Taizé klar geworden, wie stark das Jesusgebet in der Mystik verankert ist. Es gibt eine Tiefenverbindung der Frömmigkeitsströmungen in den katholischen, orthodoxen und protestantischen Traditionen, die mir lieb und teuer ist. Ich denke aber auch an Gebetssituationen, in denen ich eher Scheu als Vertrautheit empfinde und ich «nur» Gott sagen möchte.

Und wie ist das bei Ihnen? Eigentlich ist es ein schönes Thema – nicht um sich in Spitzen zu verlieren, sondern um sich in der Tiefe, die uns das Gebet schenkt, näher zu kommen.