Recherche 03. Juni 2021, von Rita Gianelli

Wessen Wille geschehe?

Sterbehilfe

Sterbende sollen ihren Todeszeitpunkt selbst bestim­men können, fordert Grossrat Pascal Pajic in einem Vorstoss. In Graubünden hat die Institutionsleitung darüber das letzte Wort.

Ein selbstbestimmter Tod, darüber hatten sich eine Bewohnerin des Alterszentrums in Davos – ihren Namen möchte sie nicht nennen – und ihr Mann beim Einzug keine Gedanken gemacht. Sie hatten Glück. Denn als der schwerkranke, stark leidende Ehemann sich entschied, der Sterbehilfeorganisation Exit beizutreten, stand die Heimleitung hinter ihnen. Sie hätten einen assistierten Suizid in ihrer Alterswohnung durchführen können.

In anderen Bündner Pflegeinstitutionen wäre das nicht möglich gewesen. Sie setzen ganz auf Pallia­tive Care und orientieren sich an der Erklärung der Berufsverbände der Pflegefachpersonen und Ärzte. «Die Tötung auf Verlangen», so heisst es darin, gehöre nicht zum pflegerischen und medizinischen Auftrag. In Graubünden besteht keine gesetzliche Regelung zum Thema Sterbehilfe. Ob eine Institution in ihren Räumlichkeiten Sterbehilfe zulassen will oder nicht, entscheidet die Trägerschaft zusammen mit der Heim- und Pflegeleitung.

Für den SP-Grossrat Pascal Pajic ist das inakzeptabel. «Es kann nicht sein, dass Menschen am Ende ihres Lebens von den willkürlichen ethischen Ansichten der Heimleitungen abhängig sind und ihr letztes Wohnumfeld verlassen müssen, um zu sterben.» Der Medizinstudent schlägt der Regierung eine Gesetzesänderung vor: Personen, die in öffentlich finanzierten Einrichtungen woh­nen, sollen das Recht haben auf den begleiteten Suizid.

Mehr Palliative Care
Für Monika Lorez-Meuli, Geschäftsführerin von Palliative GR, geht Pajics Vorschlag zu weit. «Auch die Grundrechte der Pflegepersonen müssen geschützt sein.» Ebenso müssten Bewohner und Bewohnerinnen bereits vor ihrem Eintritt besser informiert sein, ob die Institution, in der sie wohnen, Sterbehilfe zulasse oder nicht. Statt einer Gesetzesänderung fände sie es zielführender, den Institutionen zu empfehlen, ihre Positionen bezüglich Sterbehilfe zu diskutieren und klar zu kommunizieren. Nicht die Sterbehilfe, sondern vielmehr die Palliative Care sei zu fördern, so Lorez-Meuli. Denn der Grundgedanke der Palliative Care sei es, durch eine umfassende Pflege und Begleitung den Wunsch nach assistiertem Suizid gar nicht aufkommen zu lassen.

Urs Hardegger, Leiter ­zweier Pfle­gezentren und des Hospizes in Maienfeld, pflichtet dem bei. Dennoch unterstützt er Pajics Vorstoss. Seinem Verständnis vom Gebot der Nächstenliebe widerspreche es, einen Menschen in der letzten Lebensphase alleinzulassen. «Wenn ein Mensch an seiner Absicht festhält, wollen wir ihn unterstützen», so Hard­egger. Deshalb ermögliche der Stiftungsrat des Hospizes auch die Freitodbegleitung.

Sterbemoment degradiert
Der eigene Wille ist für Marianna Iberg zentral in ihrer Arbeit als Seelsorgerin und Ausbildungsverantwortliche des Vereins Tecum (die Begleitung Schwerkranker und Ster­bender). Sie steht dem assistierten Suizid kritisch gegenüber. Abhängigkeit und Leiden gehörten zum Leben und könnten nicht nur selbstbestimmt bewältigt werden. Beim Abschiednehmen sei wichtig, auch den «eigenen Willen» der Angehörigen mehr einzubeziehen und zu würdigen. «Denn das Sterben», so Iberg, «ist ein heiliger Moment.»

Thomas Gröbly nennt es das Geheimnis des Sterbens. Erfolge es selbstbestimmt, werde es «zu ­einem bürokratischen Verwaltungsakt» degradiert, sagt der Theologe, Ethiker und Lyriker, der an amyotropher Lateralsklerose (ALS) leidet. Irgendwann wird der 62-Jährige vollständig abhängig sein. Ob er jemals Sterbehilfe in Anspruch nehmen wird, weiss er nicht. Aber er weiss: «Sterben bleibt ein Geheimnis und ein Abenteuer, bei dem ich dabei sein möchte.»

Der Ehemann der Bewohnerin des Davoser Alterszentrums starb «in einem guten Moment», wie sie sagt, leidensfrei. Exit brauchte er nicht mehr. Allein die Möglichkeit, darauf zurückzukommen, habe ihn erleichtert.

Regierung sieht Bedarf

Der Grosse Rat wird Pascal Pajics Antrag in der Junisession behandeln. Bis der entsprechende Gesetzesartikel im Rahmen der Teilrevision des Gesundheitsgesetzes in Kraft tritt, kann es noch zwei Jahre dauern. Die Bündner Regierung unterstützt Pajics Vorschlag. Sterbehilfe, also assistierter Suizid, ist in der Schweiz erlaubt, wenn die sterbewillige Person urteilsfähig ist und selber handeln kann. Die dabei helfende Person darf nicht aus selbstsüchtigen Beweg­gründen handeln. Laut Aussagen von Exit lassen schweizweit mehr als die Hälfte der Heime einen assistierten Suizid zu, Tendenz steigend. Ge­setzlich erlaubt in öffentlich finanzierten Institutionen ist dies bereits in den Kantonen Zürich und Neuenburg.