Recherche 28. Februar 2022, von Constanze Broelemann

Er ging den langen Weg in die Engadiner Berge

Migration

Heute arbeitet Abdella Ibrahim im Fünf-Sterne-Hotel "Waldhaus Sils" als Roomboy. Er floh durch die Wüste, litt in Gefangenschaft und erreichte Europa per Gummiboot.

Es ist sieben Uhr am Morgen. Abdella Ibrahim ist auf dem Weella Ibrahim ist auf dem Weg vom oberengadinischen Maloja zu seinem Arbeitsplatz. Um Punkt 7.30 Uhr muss er im Waldhaus Sils sein, dem Fünf-Sterne-Luxus-Hotel, das seit mehr als einem Jahrhundert Gäste beherbergt. Seit fünf Jahren ist Abdella dort als «Werterhaltungsmitarbeiter» oder «Roomboy» angestellt. Der sperrige deutsche Begriff ist seiner Chefin Seraina Gaudenz wichtig, denn er beschreibe die Arbeit der Zimmermädchen und der Roomboys besser.

Putzen mit System

In der Früh werden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Seraina Gaudenz auf die verschiedenen Etagen des Hotels eingeteilt. Abdella muss sich zunächst um die Per­sonal-WCs im unteren Stockwerk kümmern. Die braune Uniform, die der Eritreer trägt, ist Pflicht. Genauso verpflichtend ist, dass sich alle an ein Putzlappensystem halten.
Die roten Lumpen sind für die Toiletten, die blauen für die Duschen. Da darf nichts durcheinanderkommen. Weil Abdella noch etwas Zeit hat, ehe er auf die Beletage geht, hilft er noch in der Wäscherei. Schon von draussen ist fröhliches Geplapper zu hören. Drinnen tauchen Gesichter zwischen Bergen von weisser Wäsche auf. Deutsch spricht hier niemand. Italienisch und Portugiesisch sind die vorherrschenden Sprachen. Die Körbe für die Handtücher sind dreisprachig angeschrieben: italienisch, portugiesisch und rätoromanisch. Bis um 8.20 Uhr faltet Abdella Handtücher nach dem immer gleichen System.

Danach geht es auf die Beletage. Im 17. Jahrhundert war das «schöne Geschoss» adligen und grossbürger­lichen Gästen vorbehalten. Heute kann dort jeder ein Zimmer buchen. Der 31-jährige Abdella hat eine Liste mit Raumnummern, die er auf der Beletage abarbeiten muss. «Heute hat es sechs Abreisen», sagt er. Abdella spricht neben Italienisch auch Deutsch. Als er vor acht Jahren in die Schweiz kam, war er zunächst im Transitzentrum Rheinkrone in Cazis untergebracht. Später lebte er in Trimmis und absolvierte einen Deutsch-Sprachkurs in Chur.
Inzwischen hat der Eritreer eine Aufenthaltsbewilligung B, und sein Vertrag mit dem Waldhaus Sils ist unbefristet. «Wenn man das Glück hat, gesund zu sein, kann man arbeiten», sagt Abdella. Inzwischen schaffe er, wie es Seraina Gaudenz will, sagt er. Gaudenz habe ihm auch privat geholfen. Die Hauswirtschafterin des Waldhaus Sils unterstützt ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter häufig bei Angelegenheiten mit dem Migrationsamt. Abdellas Frau und seine Tochter sitzen im Sudan fest. Sie können das Land nicht verlassen. Termine bei der Schweizer Botschaft sind rar.

Zu Fuss bis nach Libyen

Einige Gäste im Luxushotel Waldhaus haben besondere Wünsche. Einmal sollen die Storen offen gelassen werden, oder jemand wünscht eine Nackenrolle. Ein schwieriges Wort, findet Abdella. Er lüftet das Zimmer, schlägt die Betten auf und zieht die Laken wieder fest. Routiniert fixiert er die Laken wieder in ihrem Bettgestell. Dann streicht er alles glatt und sucht die Bettdecke nach dem kleinsten Fussel ab. Er wäscht Gläser, macht die Waschbecken und Toiletten. Hat ein Handtuch nur einen kleinen Fleck, muss es ausgewechselt werden.
Abdella steht in der Dusche, um sie von innen zu säubern, als er von seiner Flucht erzählt. Wie so viele Afrikaner kam auch er mit dem Boot nach Europa. Vom Sudan bis an die libysche Grenze lief er zu Fuss, sechs Stunden in der Nacht. Die Wüstendurchquerung sei besonders gefährlich. Da rasten die Leute schon mal mit 260 km/h durch den Sand, sagt Abdella. Todesgefahr. 5000 Dollar hat ihn seine Flucht nach Europa gekostet. Als er in Chiasso ankam, wurde er zunächst in ein Krankenhaus gebracht. So schlecht ging es ihm. «Ich habe 24 Tage nur geschlafen.» Mit Tuberkulose wurde er eingeliefert, man gab ihm zwei Liter Blutinfusionen.
Heute schafft Abdella bis elf Uhr neun Zimmer. Dann gibt es Mittagessen in der Mitarbeiterkantine «Pacific». Coronakonform hinter Plexiglas. Nach der kurzen Pause macht Abdella weiter. Bis alle Zimmer abgearbeitet sind, kann es 15.30 Uhr werden. Er kontrolliert die Minibars und reinigt die Räume. Der Reiniger «R 2» ist für das Bad, «R 3» für den Raum. Alles hat seine Ordnung. «Die älteren Leute sind ordentlicher als die jüngeren.» Das ist Abdella bei der Arbeit aufgefallen.

Tradition bewahren

Das erste Jahr im Hotel sei schwer für ihn gewesen. Er habe kein Italienisch verstanden, alles war fremd. Für private Kontakte hat er nicht viel Zeit, aber seine Vermieter in Maloja sind für ihn wie eine Familie. «Wir reden viel.» Dorthin geht er am Nachmittag zurück. Abends um 19 Uhr ist «die Couverture». Dafür kommt Abdella wieder ins Hotel zurück, zieht sich ein weisses Hemd und eine schwarze Hose an.
Dann geht er auf die Etage und  schlägt den Gästen das Bett auf und legt einen Bettvorleger  aus Frottee mit dem Schriftzug «Gute Nacht» davor. Abdella Ibrahim aus Eritrea ist es, der die Traditionen des altehrwürdigen Hotels mit bewahren hilft. Er ist eben ein «Werterhaltungsmitarbeiter».

Wenn man das Glück hat, gesund zu sein, kann man arbeiten.
Abdella Ibrahim, Werterhaltungsmitarbeiter