Recherche 28. Januar 2021, von Constanze Broelemann

Eine Winterreise

Ort der Einkehr

Eines Dezembermorgens machten wir uns auf, um auf die Alp Flix zu wandern. Oben erwartete uns "Son Roc", eine uralte Kapelle, die zu einem modernen Rückzugsort hergerichtet wurde.

Im Winter ist die Alp Flix nur zu Fuss, mit Schneeschuhen oder für Tourengänger erreichbar. Das heisst, dass wir den Weg hoch auf die Alp unter die Füsse nehmen müssen. Wenigstens hinunter dürfen wir Schlitten fahren, was uns erleichtert. Denn an diesem Dezembermorgen kurz nach Weihnachten liegt der Schnee hoch. Wir, das sind der Fotograf und ich starten in Sur. Dort holt uns Pfarrerin Angelika Müller ab. Sie lebt derzeit auf der Alp, in der frisch renovierten Kapelle "Son Roc". Angelika Müller ist reformierte Pfarrerin, arbeitet in Langwies und Chur und hat eine lange Verbindung zu der Alp und ihren Bewohnern.

Im Gegensatz zu uns hat Müller Ski untergeschnallt. "Die ganze Geschichte erzähle ich, wenn wir oben sind", sagt sie und meint, dass sie die Energie für den Aufstieg sparen muss. Dass sie damit Recht hatte, merke auch ich  bald. Der hohe Schnee macht die auf 2000 Meter liegende Alp schwerer erreichbar als erwartet. Plötzlich hält Müller doch an und zeigt auf eine Waldlichtung: "Zu diesem Ort gibt es eine Geschichte", sagt sie. Eines Tages im Winter habe sie hier Schreie gehört, sofort machte sie sich auf, um nachzusehen. Unten in der Lichtung lag ein junger Mann; weiter entfenrt ein Traktor. "Der Mann muss einen Unfall gehabt haben". Müller sprach mit dem Verletzten und rief den Notarzt. Später erlag der junge Mann seinen schweren Verletzungen. Die reformierte Pfarrerin blieb den zumeist katholischen Einheimischen jedoch ein Begriff, als diejenige, die zuletzt mit dem Verletzen gesprochen habe. "Auch das hat meine Beziehung zu dem Ort hier nochmal intensiviert, sagt sie und setzt ihren Weg fort.

Der Schneepflug

Schritt für Schritt hinauf​

Wir laufen vorbei an unberührter Landschaft, dem einen oder anderen Menschen und vielen Rodlern oder Skifahrern, die sich bereits im Genuss der Abfahrt befinden. Ich selbst höre fast nur noch das regelmässige Klacken von Müllers Skischuhen. Wir alle drei müssen uns konzentrieren, den Willen mobilsieren, um weiterzugehen. Schritt für Schritt. Der eisige Wind pfeift uns um die Ohren. Die Gesichter sind rot von der Kälte und ums uns herum unendliches Weiss. Irgendwann nach zwei Stunden ebnet sich die Szenerie, wir sind auf der Alp Flix angekommen. Noch ein paar Meter Gehen und vor uns tut sich ein kleines, schlichtes Häuschen auf: "Das ist Son Roc" sagt Müller. Wir sind froh.

​Strom und fliessend Wasser​

Draussen ist es kalt und drinnen eng für uns alle. Die letzten Umbauarbeiten werden noch fertigstellt. Im Ergeschoss befindet sich die alte Sakristei und auch die Schrankwand, in der der letzte Priester der Erzählung nach geschlafen hat. Klein und anspruchslos muss er gewesen sein. Ausserdem ist in dem Raum noch ein riesiger Kachelofen. Heute sind in "Son Roc" Elektriziät und Wasser verlegt. Im ersten Stock kann in einer Mini-Küchenzeile gekocht werden. Toilette und Dusche sind optimal in den wenigen Raum eingezirkelt. "Der Aufenthaltsraum ist genauso belassen, wie er war", erklärt Angelika Müller. Hier hat es einen Tisch, ein Sofa und einen Schrank. Es ist der grösste Raum in der ehemaligen Priesterwohnung. Müller und ihr Partner sind erst seit einem Tag hier und weihen die Wohnung ein. Die Lebensmittel haben sie aus dem Tal mitgebracht. Im Zwischenraum der Doppelfenster bewahren sie Verderbliches auf. Es ist kalt genug dafür. Über eine ausziehbare Treppe gelangt man ins Obergeschoss. Dort unter der Dachschräge findet sich das neu gemachte Schlafzimmer mit zwei Betten.

Das Kirchlein

Nach einer kleine Stärkung mit Nusstorte und Kaffee steigen wir wieder hinab. Wir gelangen durch das Mittelgeschoss über eine Tür in die Kapelle. Sofort beeindruckt das Altarbild mit der Abbildung zweier Heiliger. Ist einer von Ihnen der Seuchenheilige St. Rochus? Der Fussboden im Altarraum ist blau-rot marmoriert. Die Kirchenbänke aus schlichtem Holz. An den Wänden wird die Geschichte von Christus auf alten Stichen erzählt. Angelika Müller testet für uns die Akkustik des Kirchleins und singt:

Pfarrerin Angelika Müller singt in der Kapelle "Son Roc"

Auszeit auf Zeit

Belebt von der Musikeinlage der Pfarrerin, gestärkt mit einer heissen Brühe dürfen wir per Schlitten die Rückfahrt ins Tal antreten. Ein Riesenspass. Unten angekommen fühlt man sich unbeschwert wie zu Kindertagen. Wer sich eine Auszeit auf Zeit vorstellen kann, der ist in "Son Roc" richtig. Die ehemalige Priesterwohnung ist ein ausgesprochen originelles und spirituelles "Hide-Away" in den Bündner Bergen.