Recherche 27. Oktober 2022, von Mayk Wendt

Mittags um halb zwei in Scuol

Bestattung

In vielen Gegenden Graubündens wer­den ursprüngliche Bestattungsrituale von der Bevölkerung bewahrt. Den seelsorgerlichen Sinn erkennt Pfarrerin Dagmar Bertram aus Scuol.

Im Unterengadin läuten die Kirchenglocken immer um halb zwei am Mittag zur Abdankung. Warum das so ist, kann auch Dumeng Spiller nicht sagen. Seit mehr als 13 Jahren ist er für die Bestattungen in der Gemeinde Scuol verantwortlich. «Ein klassisches Bestattungsunternehmen gibt es im Unterengadin nicht.» Als Schreiner organisiert Spiller den Sarg, den Transport und ebenfalls die Überführung des Verstorbenen zur Kremierung. Angehörige haben dann die Möglichkeit, mit Spiller mitzufahren. «Oft ergeben sich sehr persönliche Gespräche.»

Das Sterben fand früher meistens in den heimischen Stuben statt. Vor allem bei älteren Menschen hat sich das jedoch mit der Entstehung der Alters- und Pflegeeinrichtungen geändert. «Der Sarg wurde früher immer mit der Pferdekutsche transportiert», sagt Spiller. Nach wie vor sei das möglich, «wenn von den Familien gewünscht», ergänzt Pfarrerin Dagmar Bertram. Das war vor drei Jahren zum letzten Mal der Fall.

Sargträger sind Nachbarn
«90 Prozent aller Bestattungen im Engadin sind heute Urnenbeisetzungen», erklärt Spiller den seltenen Einsatz der Pferdekutsche. Heute beginnt der Trauerzug meistens auf dem Platz unterhalb der Kirche. Die Gemeinschaft vor Ort bleibt wichtig. So wird der Sarg immer noch von den Nachbarn getragen. «Eine Tradition, die daher kommt, dass die Nachbarn früher schnell zur Stelle waren», so Spiller. Pfarrerin Dagmar Bertram war bereits in anderen Kirchgemeinden im Unterland und in Deutschland tätig. Sie kennt unterschiedliche Be­erdigungsrituale. Das Drumherum, wie etwa die Dekoration und Sitzordnung, werde jedoch immer wichtiger. «Die eigentliche Trauerarbeit gerät leider zunehmend in den Hintergrund.» Im Unterland seien oft Bestattungsunternehmen für die Gestaltung der Abdankung zuständig. Ein grosses Angebot an Särgen und Urnen bis hin zu buchbaren Trauerrednern finden sich unter anderem auch in Katalogen.

«In Scuol gibt es nur eine Sargvariante», sagt Spiller. In unterschiedlichen Grössen, aber in der Gestaltung einheitlich. «Der Tod macht uns alle gleich», meint er. Für die Trauerarbeit sei ein kostenaufwendiger Sarg nicht notwendig, meint auch die Pfarrerin. Die Gestaltung der Kirche sei «schlicht und einfach». Teurer Blumenschmuck oder aufwendige Kränze seien eher die Seltenheit. «Das ist das reformierte Erbe», so Bertram.

Warum die Bestattungen in Scuol jeweils um halb zwei am Mittag stattfinden, wissen aber auch der langjährige Pfarrer Duri Gaudenz und Landwirt Jon Roner nicht. Roner führte jahrelang nach dem Mittag die Pferdekutsche mit dem Sarg zur Kirche. Nach dem Gottesdienst in der Kirche geht es anschliessend zum «Palorma», dem Essen «für die Seele». Hier wird im Familienkreis, mit den Nachbarn und Freunden des Verstorbenen gedacht. Es gehe auch mal heiter zu. «Die gemeinsamen Erlebnisse mit dem Verstorbenen in dieser Atmosphäre zu teilen, ist hilfreich für die Trauerarbeit», sagt Pfarrerin Bertram.

Trost finden im Palorma
Auf die unbeantwortete Frage, warum Bestattungen in Scuol immer um halb zwei am Mittag stattfinden, hat immerhin der einheimische Historiker Paul Eugen Grimm eine Vermutung. Dem Leichenschmaus, dem Palorma, der einem geselligen Zvieri gleichkommt, wurde früher mehr Bedeutung beigemessen. Daher wurde der Zeitpunkt für Bestattungen, so Grimm, wohl so gewählt und ist bis heute unverändert.