Recherche 27. Mai 2020, von Hans Herrmann

«Die Schöpfung ist gut, aber nicht frei von Leiden»

Theologie

Ist Corona eine Strafe Gottes für die Masslosigkeit der Menschen? Der Theologe Matthias Zeindler tritt der Vorstellung eines strafend eingreifenden Gottes entgegen.

Neulich verteilten zwei Leute auf der Strasse einen Flyer, worauf geschrieben stand, dass Gott uns Corona als Warnschuss für unsere Sünden und unsere Masslosigkeit geschickt habe. Was ist von solchen Botschaften zu halten?

Matthias Zeindler: Die Corona-Pandemie stimmt viele Menschen nachdenklich. So wird zum Beispiel die Globalisierung hinterfragt, oder man nimmt vermehrt wahr, dass es arme Menschen gibt, die jetzt besonders verletzlich und bedürftig sind. Um solche Probleme wahrzunehmen, braucht es aber keine Pandemie. Das Bild eines Gottes, der hart strafend eingreift, wenn die Menschen seinen Willen nicht erfüllen, finde ich in der Bibel nicht.

Aber Gott verhängt doch gerade im Alten Testament immer wieder Strafen, wenn das erwählte Volk oder einzelne Personen gegen seine Gebote verstossen. Man denke etwa an die Sintflut.

Das Bild des strafenden alttestamentlichen Gottes gilt es zu relativieren: Gott tritt auch im Alten Testament als liebender und fürsorglicher Gott in Erscheinung – im Gegenzug sagt Jesus im Neuen Testament manchmal erstaunlich harsche Dinge. Aber es stimmt schon: Im Alten Testament zeigt sich Gott zuweilen als Gestalt, die an eine weltliche Herrscherfigur erinnert. Darin widerspiegeln sich damaliges Denken und alte Gottesbilder. Im Neuen Testament spüre ich davon nichts mehr. Hier offenbart sich Gott als derjenige, der sich für die Menschen ans Kreuz schlagen lässt – als derjenige also, der konsequent den gewaltfreien Weg geht. Und nicht den Menschen Corona zur Züchtigung schickt.

Warum aber vermuten manche Gläubige trotzdem eine Strafe Gottes in der Corona-Krise?

Geschieht etwas Schlimmes und Unerklärliches, suchen viele Menschen nach einem tieferen Sinn dahinter. Das kann beruhigend wirken und hilft, sich in einer unüberschaubaren und feindlichen Welt zurechtzufinden. Gerne wird in solchen Situationen auch nach Schuldigen gesucht; hat man zum Beispiel eine Menschengruppe als vermeintliche Verursacher identifiziert, kann man gegen sie vorgehen und fühlt sich wieder Herr der Lage, auch wenn es bloss eine Illusion ist.

Gläubige Menschen sehen die Welt als gute Schöpfung Gottes. Sie werden daran aber irre, wenn plötzlich ein Raubtier in Form eines kleinen Virus auftaucht, das uns dermassen massiv bedroht. Wie kann die gute Schöpfung solche Plaggeister gebären?

Der Schöpfungstext ganz am Anfang der Bibel spricht von einem lebensfeindlichen Chaos. In diese Unordnung hinein schafft Gott einen Raum, in dem Leben möglich ist. Es ist ein guter Raum mit einer sinnvollen Ordnung. Es ist aber kein leidensfreier Ort. Davon berichten andere Bibelstellen; Paulus etwa schreibt im Römerbrief: «Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung seufzt und in Wehen liegt, bis zum heutigen Tag.»

Warum hat Gott, von dem gesagt wird, er sei allmächtig, die Welt nicht perfekt gemacht?

Wir Menschen als Teil dieser Schöpfung sind als freie Wesen geschaffen. Unsere Entscheidungsfreiheit ist Teil der guten Schöpfung. Freiheit bedeutet aber, dass der Mensch sie auch destruktiv nutzen kann. Er ist keine Marionette an den Fäden eines alles lenkenden Gottes. Diese Feststellung bringt auch die Idee eines Weltgefüges ins Wanken, das störungsfrei wie eine perfekte Maschine funktioniert und unter dem absoluten Willen eines Herrschergottes steht. Die organische und anorganische Natur hat ebenso ihre unberechenbaren Seiten wie der Mensch. Diese Seiten offenbaren sich zum Beispiel in Erdbeben, Tsunamis oder eben im Ausbruch einer sehr ansteckenden Krankheit.

Wenn sich die zuweilen gewalttätige Natur ihrem Schöpfer, der es doch gut meint, nicht unterwirft, ist Gott folglich nicht allmächtig.

Die Vorstellung eines allmächtigen Gottes, der das Weltgeschehen nach seinem unbedingten Willen gestaltet, kommt aus dem antiken Griechentum, ist also nicht wirklich biblisch. Über den Hellenismus hat sie Eingang ins Christentum gefunden. Wir müssen dieses Gottesbild neu denken. Gottes Allmacht wirkt auf andere Art und liegt in der Zukunft: in seiner Verheissung einer neuen Schöpfung nämlich. Dorthin sind wir unterwegs, und Gott mit uns.

Wie können die Menschen Gott erfahren in Zeiten von Corona?

Viele nehmen plötzlich wieder Anteil am Leben anderer. Menschen, die Hilfe oder Aufmunterung brauchen, erleben Solidarität und Kreativität. Konfirmanden schrieben betagten Leuten im Altersheim Briefe, kleine Gesangs- oder Musikformationen gaben auf Distanz ein Ständchen, jüngere Menschen kauften für ältere ein – und anderes mehr. Christenmenschen reden vom Heiligen Geist: Das ist für mich der Raum, in dem solches Handeln möglich wird.

Was lernen wir aus der Corona-Krise?

In dieser Frage denke ich recht nüchtern. Eine Rückkehr zur vertrauten Normalität halte ich für sehr wahrscheinlich. Ich erhoffe mir aber schon, dass sich die eine und andere Einsicht durchsetzt. Etwa, dass sich ein starker Sozialstaat in einer Krise am besten bewährt. Und dass es Populisten schlechter machen als die anderen, wie am Beispiel von England und Amerika deutlich zu sehen ist. Zudem hat die Krise den längst fälligen Anschluss der Landeskirchen an die Digitalisierung deutlich vorangetrieben. Wir haben innert zweier Monate in diesem Bereich viel ausprobiert und viel gelernt. Als Ergänzung zu den traditionellen Formen des kirchlichen Lebens sollten uns diese neu entdeckten Möglichkeiten erhalten bleiben.

Matthias Zeindler, 61

Der promovierte Theologe ist Leiter des Bereichs Theologie der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn und Titularprofessor für Systematische Theologie an der Universität Bern. Vorher war er 14 Jahre Gemeindepfarrer. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen. Zeindler ist verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Kindern und wohnt in Bern. Zur aktuellen Situation hat er den Text «Was hat Gott mit dem Corona-Virus zu tun» verfasst, den Sie hier im Wortlaut lesen können.