Recherche 10. März 2022, von Christian Kaiser

Schönschreiben im Zeitmass der Zisterziensermönche

Kalligrafie

Acht Jahre lang haben Freiwillige die Zürcher Bibel in Kappel Seite für Seite kalligrafisch kopiert. Jetzt liegt das Kunstwerk vor. Am Sonntag wird es feierlich präsentiert.

2011 ist Elisabeth Wyss die Idee «zugefallen»: bis zum Reformations­jubiläum 2019 eine kalligrafische Abschrift der neuen Zürcher Bibel von 2007 zu erstellen – in der Langsamkeit jahrelanger Handarbeit wie zur Zeit vor der Erfindung des Buchdrucks. «Das Ziel war eine einma­lige Bibelausgabe, die dem reformatorischen Motto ‹Sola scriptura› neue Akzente gibt», sagt Wyss. Die Pfarrerin war bis zur Pensionierung 2018 im theologischen Leitungsteam des Klosters Kappel.

Bereits 2012 startete man in Kappel dann unter dem biblischen Arbeitstitel «Kein Jota soll verloren gehen» mit diesem Langzeitprojekt. Kalligrafisch versierte Freiwillige konnten sich bewerben, und in Kappel entstand für sie ein Skriptorium, eine Schreibstube nach mönchischem Vorbild. Am 23. April 2012 schrieb der Kalligraf Hans Gisler aus Zell die erste von 2001 Seiten – auf kostbares, in der Papiermühle in Basel handgeschöpftes Papier.

Über 1000 Tage Schönschrift

36 kalligrafisch Bewanderte zwischen 33 und 90 Jahren haben an 1039 Schreibtagen an dem Gesamtkunstwerk mitgeschrieben. In humanistischer Kursive, wie die einheitliche, leicht lesbare Schriftart heisst. Ziel war es, eine Seite als Tageswerk zu schaffen.

Und nachdem bis 2020 über 30 Tintenfässchen durch Dutzende von Federn gelaufen waren, war auch das letzte Jota (das kleinste Schriftzeichen) auf Papier, und das Werk konnte gebunden werden: ein Band Neues Testament, mit Glasdeckeln und rotem Rücken, sowie drei Bände Altes Testament zwischen Apfelbaumholz gebunden.

An die Tradition anknüpfen

Elisabeth Wyss findet: «Es ist einfach wunderbar, dass wir das alle gemeinsam fertiggebracht haben.» Und Volker Bleil, der theologische Leiter im Kloster Kappel, erklärt: «Jetzt ist es Zeit, zu feiern und die Kappeler Bibel wie jede Bibel unter die Leute zu bringen.» Am Sonntag ist es so weit, das im Zeitmass der Mönche entstandene Buch wird enthüllt und präsentiert.

Für Bleil steht die Kappeler Bibel in der 800-jährigen Tradition des Klosters. «Sie hat etwas Exemplarisches, steht für Bildung, Verlangsamung, Achtsamkeit und die Hochschätzung der Schrift.» Er erinnert daran, dass die Akte des Schreibens und des Meditierens verwandt sind.

Ausserdem waren die Gründer des Klosters, die Zisterzensiermönche, einst Spezialisten fürs Schönschreiben und Bücherkopieren. Um ungestört schreiben zu können, waren sie von allen anderen Arbeiten befreit. Das Kloster soll sein, was es war: ein Ort der Bildung, des Wissens und der Bücher.

Sehenswerte Begleitausstellung

Ein Ausflug nach Kappel lohnt sich nicht nur wegen der historisch wertvollen Gemäuer, sondern auch, um sich die Begleitausstellung zur Kappeler Bibel anzuschauen. Die Kalligrafinnen und Kalligrafen durften nämlich jede 16. Seite frei illustrieren, und eine Auswahl dieser 129 persönlich gestalteten Schmuckseiten hängt sauber gerahmt in den Räumen der Klosteranlage. 

Im ersten Stock des Amtshauses ist ein verblüffendes Nebenprodukt des Projekts zu besichtigen: kalligrafisch gestaltete Post, welche die Projektleiterin Elisabeth Wyss in den acht Jahren von den Mitwirkenden erhalten hat. Die Briefe vermitteln einen Eindruck davon, mit welcher Lust und Freude man hier am Werk war.

Ein Gemeinschaftswerk ist vollendet und wird gebührend gefeiert

Das Projekt «Kappeler Bibel» steht für ein kreatives Anknüpfen an der mittelalterlichen klösterlichen Handschriftentradition und gleichzeitig für die Wiederentdeckung heilsamer Langsamkeit. Im Mittelpunkt steht die Wertschätzung der Bibel, die in der Reformationszeit weltverändernd wirkte.

Am Sonntag, 13. März 2022 zeigen die Verantwortlichen im Kloster Kappel sowie die 34 ehrenamtlich tätigen Kalligrafinnen und Kalligrafen das erstaunliche und bestaunenswerte Werk erstmals der interessierten Öffentlichkeit. Der Festtag beginnt um 10:30 Uhr mit einem Festgottesdienst in der Klosterkirche. Es folgen ein Apéro Riche und die Eröffnung der Begleitausstellung und ein Vortrag rund um das «Wunderwerk Bibel. Zur Biografie des berühmtesten Buches der  Welt.» von Konrad Schmid, Professor für Altes Testament, Universität Zürich). Die Begleitausstellung zur Kappeler Bibel: «Kalligrafien – inspiriert von Bibeltexten» kann bis 22. Mai 2022 besichtigt werden. Kloster Kappel www.klosterkappel.ch

Weitere Informationen: www.klosterkappel.ch