Recherche 26. Mai 2020, von Rita Gianelli

"Die Kinder hellen die Stimmung auf"

Griechenland

Arne Junghans aus Davos verbrachte zwei Monate in einem Flüchtlingslager auf der Insel Samos. Ihn beeindruckte der Überlebenswille der Menschen. Die Politik scheint überfordert.

Welche Situation haben Sie angetroffen bei Ihrer Ankunft?

Arne Junghans: Die Realität sieht so aus: Das Camp ist für 700 Menschen konzipiert, aktuell leben aber 7500 darin. Viele leben jahrelang hier. Es gibt zu wenig Ärzte. Rund um das offizielle Lager ist ­eine grosse Siedlung aus selbst gebauten Hütten entstanden. Toiletten gab es bis vor Kurzem keine. Alles ist eng. Die Menschen stehen ständig Schlange, bis zu zwölf Stunden. Weil sie alle zwei Wochen ihre Aufenthaltsbestätigung erneuern müssen und es viel zu wenig Angestellte hat.

Wie fühlten Sie sich angesichts dieser Zustände?

Die Diskrepanz der Lebensrealitäten hielt ich anfangs fast nicht aus. Ständig hatte ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich abends in mein Studio ging, das sich in einem alten Hotel ausserhalb des Camps befand.

Wie sah Ihre Arbeit aus?

Unsere Organisation küm­merte sich um das Abfallmanagement; verteilte Abfallsäcke und sammelte sie ein. Den Neuankommenden brachten wir Paletten, worauf sie ihre Zelte errichten konnten, damit sie vor Kälte und Nässe geschützt sind. Wir verteilten Desinfektionsmittel und installierten Spender, schon vor der Corona-Pandemie.

Mit wem arbeiteten Sie vor Ort zusammen?

Unsere wichtigsten Partner waren die «Resident volunteers», Flüchtlinge, die freiwillig mit den Hilfsorganisationen arbeiten und damit eine Beschäftigung haben. Sie sind unentbehrlich, weil sie übersetzen können und sich am besten in den Lagern auskennen. Ich habe mich nach einem Monat halbwegs zurechtgefunden.

Wie muss man sich die Stimmung in diesem Lager vorstellen?

Generell ist die Stimmung lethargisch. Die langen Behördengänge, die Perspektivenlosigkeit zermürben die Menschen. Viele haben aber auch Elan, sind dynamisch, gehen sehr engagiert in die Schulen. Es hat enorm viele Kinder, bei schönem Wetter spielen sie draussen, das hellt die Stimmung auf.

Wie haben Sie sich vorbereitet?

Alle Hilfsorganisationen haben ­einen Verhaltenskodex, in dem ausführlich beschrieben ist, worauf wir bei einem Einsatz achten sollten. Zum Beispiel keinen Alkohol zu konsumieren und Distanz zu wahren. Letzteres ist nicht einfach, weil wir automatisch eine Beziehung mit den Menschen aufbauen, wenn wir dort arbeiten.

Wie ist die Stimmung unter den Einheimischen?

Sie fühlen sich im Stich gelassen. Als die Geflüchteten ankamen, haben sie ihnen sofort Essen verteilt. Doch der jahrelange Ausnahmezustand in ihrer Stadt frustriert sie.

Was tut die Politik dagegen?

Es scheint, als ob der griechische Staat die Camps bewusst auf den Inseln belassen will. Hier leben weniger Menschen, sprich Wähler, als auf dem Festland, die man mit der Problematik konfrontieren müsste. In Planung sind sogar noch mehr Camps auf den Inseln.

Was war Ihre Motivation für diesen Hilfseinsatz?

Ich wollte mir ein eigenes Urteil bilden und verstehen, welche Auswirkungen die internationale Flüchtlingspolitik hat. Artikel schreiben, Demos organisieren, bewirkt auch etwas, aber meine Hilfe kann ich so nicht direkt sehen. Im Camp gibt es den unmittelbaren Kontakt mit den Menschen. Meine Hilfe ist konkret.

Was ist Ihr Fazit?

Es gibt wenig Professionalität und viel Ignoranz seitens der nationalen und internationalen Politik, insbesondere der EU. Dabei bräuchte es nicht viel. Nur schon ein wenig mehr Personal würde die Lage in den Camps stark verbessern. 

Gab es Lichtblicke?

Mich überraschten die vorhandenen Lagerstrukturen. Es gibt mehrere Bäckereien und Coiffeure, sogar einen Falafelstand, der war sehr gut. Die Menschen versuchen, das Beste aus allem zu machen.

Arne Junghans, 25

Der Davoser studierte Umweltgeowissenschaften in Zürich. Sein zweieinhalbmonatiger freiwilliger Einsatz erfolgte über die Stiftung Movement on the Ground. Deren Arbeit konzentriert sich auf die Inseln Samos und Lesbos unter Einbezug der lokalen Bevölkerung. Bis zum Ende seines Einsatzes gab es keinen Corona-Fall im Lager.