Recherche 30. März 2020, von Rita Gianelli

Durch die Musik zur Sprache gefunden

Literatur

Seine Musik ist progressiv. Beim Schreiben liebt er es klassisch. Und als Politiker ist er klar sozial. Andri Perl verrät auch, warum er biblische Texte mag.

Andri Perl, 36

Für seine Masterarbeit in Dramaturgie inszenierte Andri Perl «Pontius Pilatus» am Theater Chur nach dem Roman «Der Meister und Margarita». Von der Stadt Chur erhielt er einen Werkbeitrag für seinen Debütroman «Die fünfte, letzte und wichtigste Reisere­gel». Sein zweiter Roman «Die Luke» erschien 2013. Er ist der jüngste Bündner Litera­turpreisträger und erhält im Juni mit seinen Bandkollegen von Breitbild den Anerkennungspreis des Kantons Graubünden.

Morgens um zehn herrscht im Fürstenwald ob Chur bereits reges ­Trei­­ben. Fussgänger spazieren mit ihren Hunden, Frauen joggen, während sie laut miteinander reden, ­eine Kin­derspielgruppe erkundet das Unterholz. Andri Perl kommt oft hierher. «Dieser Ort ist voller Geschichten», sagt er. An der Hand seiner Grossmutter waren die Ausflüge in den Fürstenwald für ihn als kleinen Jun­gen die ersten Reisen ausserhalb sei­nes Quartiers. Gemeinsam suchten sie nach Fuchsbauten oder hofften, dem Samichlaus und seinem Esel zu begegnen. Heute inspiriert ihn der Fürstenwald für eigene Geschichten. «Das Wandern im Wald hilft auch gegen Schreibblockaden», sagt er und zupft beim Gehen an einem dürren Grasbüschel. Viele von Perls eigenen literarischen Figuren haben ­einen Bezug zum Wald, wie der Aussteiger Hans Segmüller in seinem vielbeachteten Roman «Die Luke». Sein Weg in die Freiheit führt mitunter auch durch ­einen Wald – «Fuss vor den Fuss, und unter jedem Schritt raschelt der Boden, was Segmüller dazu verleitet, zu schlurfen und zwei Kanäle in die Blätter zu wühlen.» Sprache, findet Perl, sei in erster Linie eine Sache des Klanges, des Rhythmus. Die Musik habe ihm das bewusst gemacht. «Durch sie fand ich zu meiner Sprache.»

Freundschaft und Erfolg
Mit vierzehn Jahren gründete Andri Perl mit drei Freunden die Rap-Band Breitbild in Chur. Seither ste­hen die Vier mehr oder weniger regelmässig auf den Schweizer Büh­nen. Mehrmals schafften sie es in die Schweizer Hitparade. Zum 20-Jahre-Jubiläumskonzert in der Stadthal­le Chur kamen 6000 Fans. Für viele von ihnen sind die Songtexte das favorisierte Markenzeichen von Breitbild, die stets mit Instrumentalisten auftreten. Für Andri Perl zählt auch die Freundschaft zum Er­folgs­rezept. «Bei uns läuft alles im Kollektiv. Auf der Bühne sind wir eins», sagt er und tritt auf die Seite, um einem vorbeikommenden Reiter und seinem Pferd Platz zu machen. Die Luft ist frisch, der Himmel klar und Andri Perl blickt zwischen den Bäumen hoch. Es war zu der Zeit, als die jugendlichen Freunde in ihren Kellern probten und erste Rausch­erfahrungen machten, als An­dri Perls Vater schwer erkrankte. Gott war ihm bis dahin nur in der Kinderbibel, aus welcher ihm die Grossmutter Geschichten erzähl­te, oder beim Gute-Nacht-Gebet mit der Mutter vor dem Einschlafen vorgekommen. «Wir wussten nicht, ob mein Vater überleben würde. Der Glauben an Gott verlieh mir damals Kraft und einen gewissen Optimismus.» Vielleicht habe sich dieser auch auf sein Umfeld übertragen, sagt er rückblickend. Sein Va­ter wurde gesund.Heute, sagt der Schriftsteller, sei sein Interesse an Lebensfragen eher wissenschaftlich. «Als ich zu schreiben begann, war für mich der Glauben nicht mehr präsent.» Spiritualität schöpfe er aus der Musik. Nicht nur im Rap. «Was das Singen und Hören von Oratorien in einem auslöst, lässt sich in Worten nicht beschreiben», so Perl, der viele Jahre im gemischten Chor der Singschule Chur Mitglied war. Eine Kraftquelle war jedoch immer auch die Literatur. Durch das Studium der Kunst­geschichte und der Literatur habe er seinen Blick für biblische Motivik geschärft. «Ohne sie ist die klassische Literatur nicht zu verstehen. Religion ist für mich nach wie vor eine Schatzkiste gemeinsamer Erzählung.» Und sie ist auch eine Fund­grube für Perls Prosa. Die Sinnfragen beschreibt er im Alltäglichen, in den Nöten des kleinen Mannes, der zum Helden seines Schicksals wird, wenn er sich aufmacht, die Welt zu erkunden. So steht Perls Protagonist auf dem Kamm ­eines Hügels und bemerkt, wie seine Abgestumpftheit neu­em Leben weicht, als er ein Reh erblickt – «Die Freude über den leben­digen Moment und die eigene Neugier mimen ein Lächeln, ohne dass er sich dessen bewusst wäre.» Andri Perl steht am Waldrand und wirft einen Blick über die Stadt. Seine Stadt. Hier sitzt er seit 2014 für die SP im Kantonsparlament. Aktiv Politik zu machen, habe für ihn als Künstler etwas Befreiendes, sagt er. Damit könne er alle Menschen – nicht nur die Musikliebhaber oder Literaturinteressierten – erreichen. «Mir gefällt die Knochenarbeit, mich in Dossiers einzulesen, zu debattieren, gemeinsam etwas zu bewegen.»

Neues Projekt
Glücklicherweise findet er Zeit für ein neues literarisches Projekt. Ein Roman soll nächsten Frühling erscheinen. Derweil plant er eine Entdeckungstour durch die Schweiz. Zu Fuss – wie letzten Som­mer, als er von Chur nach Bern wanderte. «Die Welt ist hier», sagt An­dri Perl, «war sie schon immer.