Recherche 26. August 2021, von Sandra Hohendahl-Tesch

Der kindliche Glaube und die Liebe zu den Menschen

Diakonie

Bald gibt Christoph Zingg die Leitung des Sozialwerks Pfarrer Siebers ab. Er hat die Stiftung auf ein solides Fundament gestellt, ohne die Bedürftigen aus den Augen zu verlieren.

Staffelei, Farben, Pinsel: Der Raum bedeutet Christoph Zingg viel. Es ist das Atelier des Fachspitals Sune-Egge. Patientinnen und Patienten aus dem Sucht- und Obdachlosenmilieu können hier kreativ sein. «Mit dem Malen laden sie sich einen Teil der Last von der Seele», sagt Zingg mit Blick auf die mehrheitlich abstrakten Bilder an den Wänden. So manches Gespräch hat er an diesem Tisch geführt. Er hat zugehört und zugeredet, unzählige Hände gehalten, wann immer er als Gesamtleiter des Sozialwerks Pfarrer Sieber die Zeit dafür fand.

Fluglärm wie Musik

Während elf Jahren war der Theologe für die 190 Mitarbeitenden in den 16 verschiedenen Einrichtungen verantwortlich. Nun verlässt er die Stiftung, die 1988 Pfarrer Ernst Sieber als Antwort auf das Drogenelend auf dem Platzspitz in Zürich gegründet hat. Der Abschied fällt Zingg nicht leicht. Er lässt Menschen zurück, die ihm «in all den Jahren ans Herz gewachsen sind». Mitarbeitende, Randständige. Die Menschen sind ihm wichtig. Deshalb ist er Pfarrer geworden. Obwohl Zingg nach der KV-Lehre ursprünglich hoch hinauswollte: «Mein Traumberuf war Flugbegleiter, dafür reiste ich extra in die USA», erzählt Zingg, dessen Vater viele Jahre für die Swissair tätig war. In einem Hobbyraum bewahrt er Hunderte von Swissair-Gadgets und Modellflieger auf, die er sich als Bub nicht leisten konnte. Man könne mit ihm wohl über Kerosinverbrauch diskutieren, aber sicher nicht über Fluglärm, weil dieser wie Musik in seinen Ohren klinge.

Nicht nur den Flughafen besuchte Zingg als Kind liebend gern, sondern auch die Sonntagsschule. Die junge Lehrerin konnte Geschichten erzählen, «die mich einfach umhauten». Sodass sich die Kinder mit Jona im Walfischbauch wähnten und ihre Ohren von der Trompete von Jericho wackelten. «Dies nährte meinen Kinderglauben, den ich mir bis heute bewahrt habe.» Heute will Zingg gestalten. Das liege ihm mehr als predigen. Die Kirche ist für ihn ein Ort, wo sich Menschen treffen und zu ihren Stärken finden. Als junger Pfarrer startete er in einer kleinen Engadiner Gemeinde, «in der historisch bedingt jeder mit jedem Krach hatte». Mit viel Einsatz gelang es ihm, eine neue Generation an Konfirmanden hervorzubringen, die es gut zusammen hatten. Sie gründeten sogar einen Gospelchor, mit dem Pfarrer, der nur ein wenig Klavier spielte, als Dirigenten. Die jungen Sängerinnen und Sänger probten fleissig und wurden an Pfingsten 2001 an die Expo eingeladen. «Ich habe halt auch Rampensau-Qualitäten», bemerkt Zingg spitzbübisch.

Auf das Pfarramt folgten acht Jahre als Leiter der Zürcher Stadtmission, die heute Solidara heisst, bevor Zingg 2011 zum Sozialwerk Pfarrer Sieber kam. Diakonie ist eines seiner Lieblingswörter. Es bedeute eigentlich «durch den Staub gehen», betont er und richtet seinen Blick auf das von einer Drogensüchtigen gemalte Porträt von Pfarrer Ernst Sieber. «Evangelisation hatte für ihn die Form eines Stücks Brot, Seelsorge auch mal die Gestalt einer Scheibe Salami.» Zingg führte das Werk nach dem Tod des Gründervaters 2018 in diesem Sinn weiter und behielt stets die Bedürftigen im Blick. Die Strukturen aber seien viel professioneller geworden. Zudem stehe das städtische Sozialhilfewesen an einem besseren Ort: Die offene Drogenszene ist verschwunden, dank der kontrollierten Drogenabgabe ging die Beschaffungskriminalität zurück.

Nussknacker und Diaspora

Zingg überlässt seiner Nachfolgerin Friederike Rass eine gesunde Stiftung, der es finanziell so gut gehe wie noch nie. Vor der Pensionierung möchte der vor Energie strotzende 59-Jährige noch einmal eine neue Herausforderung annehmen. Zingg tritt eine Pfarrstelle in Disentis an, wo er den rund 600 Reformierten im katholisch geprägten Bündner Oberland eine starke Stimme geben will. Das moderne Pfarrhaus bezieht er mit seiner Partnerin. Im Gepäck einen Nussknacker: «Für das harte Bündner Urgestein.»