Recherche 29. Mai 2020, von Anouk Holthuizen

Wenn der Partner ins Pflegeheim zieht

Loslassen

Kurz nach der Eisernen Hochzeit im Frühling 2018 musste Johannes Schmids* Frau in ein Pflegeheim. Am Esstisch in seiner Wohnung erzählte er vom langen Abschied. 

«Sie war in meinem Leben meine einzige Frau. 1951 lernten wir uns an einem Fasnachtsball kennen. Rosa* war als Wahrsagerin verkleidet und trug eine Glaskugel. Ich begleitete sie heim. Wir überlegten, uns eine Woche später zu treffen, doch ich meldete mich nicht. Es war keine Liebe auf den ersten Blick. Dann schrieb Rosa, sie wolle mich wiedersehen. Das fand ich mutig. Wir  verabredeten uns für einen Spaziergang. Sie sagte, sie würde mich gerne weiterhin sehen, doch ihre Eltern müssten mich erst kennenlernen. Das ging mir zu schnell, trotzdem sagte ich zu. Die Mutter hatte ein feines Essen vorbereitet, der Vater einen Rotwein entkorkt. Sie waren sehr herzlich, ich fühlte mich sofort wohl. In dieser Wärme entwickelte ich starke Gefühle für Rosa. Nach einigen Monaten heirateten wir. Ihrer Familie zuliebe wurde ich vom Protestanten zum Katholiken.

Manches einfach schlucken

Rosa und ich konnten immer gut ­zusammen reden. Nicht über alles, ­Rosa genoss keine lange Ausbildung, wie viele Frauen jener Zeit. Sie war darüber oft traurig. Nach der Handelsschule arbeitete sie als Sekretärin, gab aber ihren Job auf, als sie im dritten Ehejahr schwanger wurde. Das war halt so, und ich verdiente ja recht. Am vierten Hochzeitstag mussten wir unser erstes Kind im Alter von zwei Tagen beerdigen. Das war sehr schlimm. Um sich abzulenken, nahm Rosa ­eine Arbeit auf, bis drei Jahre später unser Sohn zur Welt kam. Vier Jahre danach gebar sie unsere Tochter.

Rosa war eine gute Familienfrau, sie schenkte uns viel Liebe. Ich war zu oft weg. Als kaufmännischer Angestellter ging ich früh zur Arbeit und abends nach dem Essen in den Chor oder Verein. So verpasste ich einen grossen Teil der Kleinkinderzeit. Damals dachte ich nicht darüber nach. Ich war ein guter Sänger, meine Familie stolz auf mich. Als die Kinder grösser waren, schloss sich meine Frau meinem Chor an. Das genossen wir. Daheim sangen wir oft, die Kinder begleiteten uns musikalisch. Nicht alles war heiter, auch wir hatten schwierige Phasen. Aber keine ernste Krisen. Für eine gute Ehe ist Toleranz das Wichtigste. Manches muss man kommentarlos schlucken.
Nachdem die Kinder ausgezogen waren, blieb meine Frau Hausfrau. Wir hatten auch zu zweit ein schönes Leben, doch leider hatte Rosa früh gesundheitliche Probleme. Die Füsse, der Rücken – immer wieder war sie eingeschränkt. Ich kenne alle Kurhäuser der Schweiz. Selbst war ich immer gesund, das ist ein grosses Geschenk.

Nie besprachen wir, wie es im ­Alter werden könnte. 2007 wurde Rosa, damals 75, am Rücken operiert. Der Arzt sagte, dass sie im Rollstuhl landen würde, wenn etwas schiefgeht. Die Operation verlief gut, die Erholungsphase war aber lang. Nicht mal da sprachen wir über die Zukunft, obwohl Rosas Füsse immer mehr Probleme machten. Erst vor zwei Jahren überlegten wir, in ein Altersheim zu ziehen. Bis da konnte ich sie gut unterstützen, ich machte den ganzen Haushalt. Nur bügeln kann ich nicht. Ich vermisse die von ihr geglätteten Hemden. Niemand machte das so gut. 

Erst erleichtert

Nach einer Fussoperation ging es nur noch bergab. Die vielen Medikamente führten zu einem Abbau von Rosas Gehirn. Kurz vor unserem 65. Hochzeitstag sagte unser Hausarzt, es könne so nicht weitergehen, ich konnte Rosa nicht mehr alleine pflegen. Für eine Alterswohnung war es nun zu spät. Rosa musste in eine Pflegeabteilung. Das Festessen am Hochzeitstag fand im Bewusstsein statt, dass dies unser letzter grosser Anlass mit der Familie ist. Am Tag danach rief ich den Arzt an und bat ihn, mir Bescheid zu geben, wenn ein Ferienbett frei ist. Wir sagten meiner Frau, wir würden das erst mal ausprobieren. Dabei war klar, dass es definitiv sein würde. In dieser schweren Zeit unterstützte uns meine Tochter sehr. Dafür bin ich sehr dankbar. Sie beeinflusste mich nicht, sie half mir.

Drei Wochen später war ein Bett frei. Rosa, meine Tochter und ich schauten das Zimmer an, wir fanden es schön. Für den Umzug nahmen wir ein Taxi, in zwei Reisetaschen lag das Notwendigste. Nach und nach brachten wir weitere Dinge hin, eine Lampe, ein Bild, den Fernseher. Damals tat mir das noch nicht weh. Erst genoss ich, mich nicht mehr kümmern zu müssen und zu tun, was ich will. Aber schnell wurde es normal, dann langweilig. Ich konnte nicht endlos kochen und Musik hören. Da meine Augen immer schlechter wurden, fiel mir das Lesen immer schwerer.
Anfangs besuchte ich Rosa jeden zweiten Tag. Eine Pflegerin riet mir, seltener zu kommen, damit ­Rosa sich besser integriert. Sie wollte mit den Bewohnern nichts zu tun haben. Jetzt gehe ich nur noch sonntags. Die Pflegerin hatte recht: ­Rosa unterhält sich nun mehr mit den anderen. Zuerst fühlte ich mich entlastet. Denn jedes Mal, wenn ich sie verlasse, sagt sie: «Warum kann ich nicht mit dir mit?» Sie realisiert nicht mehr viel, aber sie weiss, wer ich bin, und dass wir nicht mehr zusammenwohnen. Das sind schwere Momente. Ich bin froh, sie nicht mehr alle zwei Tage zu erleben.

Es gibt aber einen Nachteil: Im Heim treffe ich Leute. Viele Bekannte aus der Region wohnen dort. Nun bin ich oft allein. Ich bin nicht mehr gut unterwegs. Manchmal kaufe ich in der Stadt ein und treffe wen im Bus. Meine Tochter kommt jede Woche, an zwei Tagen die Physiotherapeutin. Ins Alterszentrum zu ziehen würde vieles vereinfachen. Aber etwas in mir wehrt sich mit allen Fasern dagegen. Dort lebt Rosa in der Pflegestation. Wegen der Demenz können wir kein normales Gespräch mehr führen, nicht mehr zärtlich sein. Bei ihr spüre ich, wie endgültig sich unsere Wege trennen. In meiner Wohnung finde ich Distanz zu meinen Gefühlen.

Es ist gut so

Letzten Sonntag sagte meine Tochter: «Vater, wir organisieren einen Besuchsdienst. Du brauchst jemandem zum Diskutieren.» Kollegen in der Nachbarschaft sagen, «ruf mich an, wenn du was brauchst», aber sie haben nicht wirklich Zeit. Ich würde gerne einfach ab und zu abends mit jemandem ein Glas Wein trinken. Manchmal erledigt eine Nachbarin die Einkäufe für mich. Der Hausarzt sagte, ich solle mit ihr zusammenziehen, sie sei Witwe. Ich antwortete: «Mit solchen Gedanken müssen Sie mir nicht kommen! Meine Frau lebt!» Was für eine komische Art, mir helfen zu wollen. Vielleicht mache ich das mit dem Besuchsdienst. Am nächsten Wochenende will ich mit meiner Tochter die Schränke ausräumen. Sollte es soweit kommen, dass ich gehen muss, müsste sie endlos räumen.  

Damals am Fasnachtsball schaute ich in die Kristallkugel, um zu sehen, was die Zukunft bringt. Ich sah nichts, und so ist das Leben: Man weiss nicht, was kommt. Ich hatte lange Zeit viel Glück. Mein Leben war gut. Jetzt nicht mehr. Wenn ich heute einschlafe und nicht mehr aufwache, ist das in Ordnung.»


*Johannes Schmid verstarb einen Monat nach dem Gespräch. Da er den Text
nicht mehr gegenlesen konnte, ist er in Absprache mit seiner Familie anonymisiert.