Recherche 02. November 2021, von Constanze Broelemann, Rita Gianelli

"Sterben ist ein Ringen - vielleicht wie das Gebären"

Sterbehilfe

Die assistierte Selbsttötung per Gesetz in Pflegeinstitutionen zu erlauben, sei falsch, finden Christina Tuor und Patricia Rolinger. Nötig sei aber eine Debatte über das Thema.

Patricia Rolinger, 41

Patricia Rolinger, 41

Bevor die ausgebildete Pflegefachfrau die Heimleitung des Pflegezentrums Glienda in Andeer und des Alters- und Pflegeheims Envia in Alvaneu übernahm, führte sie die Tagesklinik der Psychiatrischen Dienste Graubünden. Sie lebt mit ihrer Familie in Davos.

Die Bündner Regierung will das Gesundheitsgesetz anpassen. Demnach sollen Personen in öffentlich unterstützten Pflegeeinrichtungen das Recht haben, auf Wunsch einen assistierten Suizid durchzuführen. Sie sind dagegen. Warum?
Patricia Rolinger: Die Anwesenheit der Pflegefachpersonen beim assistierten Suizid ist nicht Teil des Pflegeauftrags. Aber wir verweigern uns gesellschaftlichen Entwicklungen nicht. Wir reflektieren uns ständig und möchten nicht im Weg stehen, wenn jemand den Wunsch äussert.

Aber in Ihrer Institution ist es nicht möglich?
Patricia Rolinger: Nein, weil wir damit an unsere Grenzen stossen. Das haben wir gemerkt. Es kommt zu Haltungskonflikten mit weitreichenden Konsequenzen: Zusammenbrüchen, Kündigungen. Wichtig beim assistierten Suizid ist die menschenwürdige Umsetzung. Dazu braucht es klare Abläufe, Schulungen für das Personal und Kommunikation mit den Mitbewohnenden und Angehörigen und vielem mehr.

Gibt es kein Recht auf Selbstbestimmung am Lebensende?
Patricia Rolinger: Tatsache ist, dass der assistierte Suizid im Strafgesetzbuch verankert ist und dass nach dem assistierten Suizid eine behördliche Untersuchung erfolgt. Es gibt noch kein Gesetz im Kanton, welches den begleiteten Suizid in den Alters- und Pflegeheimen erlaubt.
Christina Tuor: Der assistierte Suizid bleibt ein Suizid. Der Artikel 115 im Strafgesetzbuch erklärt Beihilfe zum Suizid zur Strafe, wenn sie aus selbstsüchtigen Gründen erfolgt. Mehr Sorgfaltskriterien haben wir nicht. Doch es braucht dazu die öffentliche Debatte und nicht die Einführung eines neuen Gesetzes. Ein Gesetz, das Institutionen vorschreibt, den assistierten Suizid zuzulassen, kann zum Dammbruch führen, es ist ethisch unverantwortlich.

Inwiefern?
Christina Tuor: Aufgabe unserer Einrichtungen ist es, den Sterbeprozess zu begleiten. Wir hören gut hin, was sterbende Menschen brauchen, damit sie den Weg des Sterbens gut gehen können. Per Gesetz Institutionen zu verpflichten, auch assistierte Suizide durchzuführen, wäre eine massive Einschränkung unserer Autonomie. Bisher ist assistierter Suizid eine Möglichkeit, nun soll er Pflicht werden, das würde unseren professionellen Spielraum in der Begleitung alter und sterbender Menschen beschneiden. Der Druck auf Menschen, die pflegerisch und finanziell anspruchsvoll sind, von assistiertem Suizid Gebrauch zu machen, kann dann steigen.

Sie sind beide Mitglieder des Ethikbeirates der Psychiatrischen Dienste Graubünden. Was ist, wenn ein Mensch nur noch leidet?
Patricia Rolinger: Mir hilft der Gedanke an die Natur, die den Zeitpunkt bestimmt. Den Zeitpunkt des Sterbens kann der Mensch, wie auch den Zeitpunkt des Gebärens, zwar beeinflussen, aber nicht selbst festlegen. Er stellt sich ein, wenn es so weit ist. Fehlt dieser Prozess, fehlt den Menschen etwas.
Christina Tuor: Der assistierte Suizid ist kein selbstbestimmter Sterbeprozess, bei dem sich Angehörige, Ärzte, Pflegende geeinigt haben, auf lebensverlängernde Massnahmen zu verzichten. Diese Differenzierung ist wichtig. Der assistierte Suizid, ich formuliere es provokativ, ist ein punktuelles Ereignis. Eine Person unterstützt eine andere bei deren Tötung. Der eigentliche Sterbeprozess wird verhindert. Der Tod selbst wird tabuisiert, wenn er – so hörte ich – abends im halbleeren Altersheim vollzogen wird, ohne die Mitbewohnenden und das Personal einzubeziehen.

Fehlt uns also die Ehrfurcht vor dem Leben?
Christina Tuor: Wir pflegten jahrhundertelang eine Kultur der Endlichkeit: Memento mori. Jetzt hat sich das verschoben, wir sind eine Gesellschaft der Geburtlichkeit, aber nicht im Sinne der Philosophin Hannah Arendt, die damit die Initiierung des persönlichen Neuanfangs meinte. Unsere Gesellschaft interessiert das ewig Junge, die Lebensverlängerung, manchmal um jeden Preis. Umgekehrt ist die Frage der Endlichkeit nicht mehr integriert in unserem Lebensentwurf. Suizidhilfeorganisationen haben einen Beitrag geleistet, indem sie bei dem Trend ansetzten, jedes Leben verlängern zu wollen. Doch welches Menschenbild hat jemand, der bereit ist, auf Wunsch einen anderen Menschen bei der Selbsttötung zu unterstützen? Ich habe Ehrfurcht vor Menschen, die ihren Sterbeweg gehen. Sie akzeptieren, dass das Leben ohne Sterben nicht zu haben ist. Für mich besitzt auch der leidende und verletzliche Mensch Würde.

Damit argumentieren auch die Befürworter des assistierten Suizids.
Christina Tuor: Sie haben einen materialistischen Wert von Würde, orientiert an Kriterien wie dem Leiden oder der Krankheit. Menschenwürde heisst für mich die Heiligung des Lebens als Ganzes. Dazu gehört auch  der Sterbeprozess. Selbst wenn er schwer ist.
Patricia Rolinger: Sterben ist ein Ringen, vielleicht wie das Gebären.
Christina Tuor: Und genauso wenig, wie wir unseren eigenen Lebensanfang bestimmen, sollten wir unser eigenes Lebensende festlegen.
Patricia Rolinger: Das wäre der natürliche Kreislauf.

Christina Tuor-Kurth, 58

Christina Tuor-Kurth, 58

Die reformierte Theologin unterrichtet Neues Testament an der Uni Basel und Religion, Ethik und Philosophie am Gymnasium im Kloster Disentis. Sie führt in Co-Leitung das Alters- und Pflegeheim in Cumpadials und lebt mit ihrer Familie in Val/Surrein.