Recherche 16. Juli 2020, von Sandra Hohendahl-Tesch

Pandemie schafft neue Form der Armut

Diakonie

Mit dem Coronavirus ist die Armut in Zürich sichtbar geworden. Die Lebensmittelabgabe an der Langstrasse ist zwar vorbei, nicht aber die Arbeit von Schwester Ariane.

Von 70 auf 1400 Pakete

Die Aktion startete mit dem Lockdown am 13. März und endete am 4. Juli. Jeweils punkt 17 Uhr wurden die Lebensmittelpakete abgegeben, zuerst rund 70 und zum Schluss 1400 jeden Samstag. Ermöglicht wurde dies ausschliesslich durch Spenden, insbesondere von katholischen Pfarreien und reformierten Kirchgemeinden. Jeder Sack enthielt Lebensmittel und Ware im Wert von 45 bis 50 Franken.

Penne, Konserven und Kekse: Im städtischen  Lagerraum in der Hardau-Siedlung stapeln sich die Lebensmittel meterhoch. An diesem Samstagmorgen Ende Juni treffen sich wiederum rund zwei Dutzend Freiwillige, um Pakete für Bedürftige zusammenzustellen. Es ist 10 Uhr. Gerade kommt ein Lieferwagen von «Food Care» angefahren. Er hat Frischwaren wie Obst und Gemüse geladen, das die Helferinnen und Helfer nun in die bereitstehenden Taschen füllen.

Viele wollen mit ihr beten

«Heute ist es hektisch», sagt Schwester Ariane. Mit wehendem langem Rock und in Birkenstock-Sandalen eilt sie herbei. Viele der Freiwilligen seien krankheitsbedingt aus-gefallen. Und ein Fahrer hat kurzfristig abgesagt. «Kannst du einen Ersatz organisieren?», fragt sie einen jungen Mann mit Rasta-Frisur an, der sogleich zum Handy greift.

Die 47-jährige Theologin kümmert sich mit ihrem 2001 gegründeten Verein «Incontro» um Prostituierte, Obdachlose, Drogensüchtige und Bedürftige aus der Stadt. Als Anfang März der Lockdown verhängt wurde und alle Einrichtungen schliessen mussten,  war sie sofort zur Stelle: Sie organisierte die Vergabe von Lebensmittelpaketen. Und sie gibt seitdem jeden Tag 300 warme Mahlzeiten im Langstrassenviertel aus zusammen mit dem Küsnachter Pfarrer Karl Wolf. «Wir kümmern uns um jene, die sonst durch die Maschen fallen», erklärt Schwester Ariane. Niemand muss eine Formalität vorweisen, um einen Sack mit Nahrung und Hygieneprodukten zu erhalten. Besonders bei Menschen mit Migrationshintergrund, oft psychisch instabil und ohne Sprachkenntnisse, sei dies eine allzu hohe Schwelle.

Für die Menschen am Rand der Gesellschaft verspürt Ariane Stöcklin grosse Liebe. Sie hat ein offenes Ohr, spendet Trost, leistet Seelsorgearbeit. Und sie umarmt die Menschen, die Hilfe brauchen. Corona hin oder her. Wie die Drogensüchtige, die vergewaltigt wurde und ihr unter Tränen davon erzählte. Oder die Prostituierte, die ihr Zimmer nicht mehr bezahlen konnte und obdachlos wurde. «Viele wollen mit mir beten», sagt Stöcklin.

Nach dem Mittag steht in einem Hof im Schatten der markanten Hardau-Türme ein ganzes Meer an Lebensmittelsäcken zum Transport bereit. Freiwillige karren sie an die Langstrasse, wo sich um 13.30 Uhr bereits Menschen vor dem «Hiltl» versammelt haben. Ein paar Frauen, die sich angeregt auf Spanisch unterhalten, und zwei verhüllte Musliminnen sind als Erste da.

Jetzt ist auch Pfarrer Wolf eingetroffen. Er will heute möglichst viele Hilfsbedürftige persönlich ansprechen, ihre Namen und Adressen notieren und nachfragen, wo die Not zurzeit am grössten ist. Nach dem Ende der Aktion werden Freiwillige die Bedürftigen privat aufsuchen, um sie weiter mit Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs zu versorgen.

Niemanden im Stich lassen

«Die Corona-Krise hat eine neue Form der Armut gebracht», sagt Wolf. Neben Randständigen und Migranten sind es vermehrt auch Familien, Alleinerziehende und Seniorinnen und Senioren aus der Schweiz, die für Lebensmittel anstehen.

Einige Begegnungen gehen dem Pfarrer besonders nahe: Nie werde er den Blick eines elfjährigen Mädchens vergessen, das sich für seine arbeitslose und an Krebs erkrankte Mutter in die Reihe stellte. «Nun besuchen wir die beiden zu Hause.»

Um 16.30 Uhr ist die Schlange bis zum Helvetiaplatz angewachsen. Auch Ariane Stöcklin ist mitten im Geschehen. Angst vor einer Ansteckung hat die Nonne nicht, obwohl sie selber zu den vulnerablen Person zählt. «Ich kann meine Freunde in der Krise nicht alleine lassen, das käme einem Verrat gleich», sagt sie und ihre braunen Augen funkeln über der Maske. «Ich würde mein Leben für sie lassen».