Recherche 03. Februar 2022, von Constanze Broelemann

«Kirche war immer Teil des Systems»

Fremdplatzierungen

Sozialleistungen gibt es in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Vorher hatten Gemeinden alleinige Fürsorgepflicht. Mit teils fatalen Folgen.

Es sind sehr viele Fälle von psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt dokumentiert.
Loretta Seglias

Fremdpaltzierungen von Kindern im Rahmen sogenannter fürsorgerischer Zwangsmassnahmen waren bis ins 20. Jahrhundert hinein Alltag. Welche Rolle spielten hierbei Pfarrpersonen?
Loretta Seglias: Der Pfarrer, der Lehrer und der Gemeindepräsident hatten eine wichtige Rolle im Dorf. Sie bewerteten, in welcher Familie gängige Moralvorstellungen nicht eingehalten wurden, und meldeten das den Behörden.

Was konnte noch dazu führen, dass die Behörden den Eltern ihre Kinder wegnahmen?
Die Gründe waren mannigfaltig. Arme Familien waren besonders gefährdet. Aber auch der Alkoholkonsum oder eine Schwangerschaft, ohne verheiratet zu sein, konnten zu Fremdplatzierungen von Kindern führen. Das Ziel war, folgsame und arbeitsame Menschen zu erziehen, die auch zu «guten Christinnen und Christen» heranwuchsen.

Wohin wurden die Kinder denn gebracht?
Zu Privatpersonen, aber auch zu Pfarrpersonen, in konfessionelle oder nicht konfessionelle Heime. In den Dreissigerjahren bestanden in der Schweiz über 1100 Kinder- und Jugendheime. Im protestantischen Umfeld engagierten sich viele auch in Vereinen. Die Kirchen waren immer Teil des Systems. Sie vermittelten, wachten mit über die «christliche Erziehung» und nutzten dafür ihr Netzwerk.
Wie wurden die Kinder und Jugendlichen in den Heimen behandelt?
Das lässt sich nicht verallgemeinern. Die persönlichen Begegnungen waren immer entscheidend. Allerdings sind sehr viele Fälle von psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt dokumentiert.
Vereinzelt wurden solche Fälle vor Gericht gebracht, weil dieses Verhalten schon damals unrecht war. Die vielfältigen gesetzlichen Grundlagen, mit denen die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen ausgesprochen wurden, wurden zunehmend hinterfragt, wenn es um die Einhaltung der Grundrechte ging. Einer der Vor­behalte bei der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention 1974 beinhaltete auch die sogenannten administrativen Versorgungen, bei denen die oft fehlenden Rekursmöglichkeiten gegen
einen Internierungsentscheid als problematisch angesehen wurden.

Gab es niemanden aus dem reformierten Milieu, der die Fremdplatzierungen kritisiert hat?
Jeremias Gotthelf, eigentlich Pfarrer Albert Bitzius, hat die Bedingungen immer kritisiert, unter denen die Kinder und Jugendlichen «versorgt» wurden. Oft bekamen diejenigen ein Pflegekind, die das wenigste Geld wollten. Das Kind musste das dann nicht selten mit eigener Arbeit ausgleichen.
 
Auch die Kinder von Jenischen wurden fremdplatziert. Was tat die Kirche?
Auch hier haben die Kirchen mit den Behörden zusammengearbeitet. Die Gesellschaft betrachtete die Lebensweise der Fahrenden als destabilisierend. Damals wurden  mehrere hundert jenische Kinder ihren Eltern weggenommen.

Loretta Seglias, 46

Loretta Seglias ist Forschungsbeauftragte am Liechtenstein-Institut sowie freischaffende Historikerin und Geschichtsvermittlerin. Sie forscht und lehrt zur Schweizer Zeitgeschichte, zu fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen, zu Medizin- und Psychiatriegeschichte sowie Oral History. Sie lebt mit ihrer Familie in Wädenswil.