«Es gibt Selbstoptimierung in einem guten Sinn»
«Höher, schneller, weiter» wird in der Kirche oft kritisch gesehen. Dabei kann der Wunsch, sich stetig weiterentwickeln zu wollen, gut sein. Vorausgesetzt, die Basis stimmt.
Stephan Jütte, 38
Der promovierte Theologe leitet das RefLab der reformierten Landeskirche des Kantons Zürich. Er beschäftigt
sich beruflich mit dem Glauben und glaubt fest an regelmässigen Sport und ausgiebiges Feiern. Mit seiner Familie lebt er in Bern.
Die Zeit vor Ostern nutzen viele Menschen zum Fasten. Gehört Fasten schon in den Bereich der Selbstoptimierung?
Stephan Jütte: Es gibt zwei Arten von Fasten. Das Intervallfasten, eine Art
Diät, bei der ich die Kalorienaufnahme reduziere, indem ich die
Aufnahmezeit begrenze. Das gehört für mich in den klassischen Bereich
einer Selbstoptimierung. Dann gibt es noch das Fasten als Unterbrechung
aus dem Alltag, also das Heilfasten. Man nimmt sich so Zeit, seine Sinne zu schärfen. Dieser Freiraum, den man in der Fastenzeit bekommt, kann
eine Phase vor einer Selbstoptimierung sein. Man hat Platz, darüber
nachzudenken, was einem guttun würde.
Was verstehen Sie unter Selbstoptimierung?
Meiner Meinung nach müssen drei Punkte gegeben sein, damit etwas eine
Selbstoptimierung ist: Es muss etwas sein, was ich messbar steigern
will. Es ist ein Prozess, der nie abgeschlossen ist. Es ist etwas, was
mit der Person, die sich optimiert, zu tun hat. Ich optimiere mich nicht für die Familie, den Sportverein. Es ist eine ganz persönliche Sache.
Und ist daran etwas schlimm?
Erst mal ist gar nichts an Selbstoptimierung problematisch. Es ist eher ein
Problem, das Kirchen mit dem Phänomen haben. Dieses Gefühl in
kirchlichen Kreisen, dass man Leistung nicht gut finden darf. Ich
glaube, es gibt eine Selbstoptimierung im guten Sinn. Also jemand mag
sich, lebt in einem intakten Umfeld, in dem sie oder er Liebe empfängt,
ohne etwas leisten zu müssen, und setzt sich dann Ziele und versucht,
sich laufend zu verbessern.
Warum denkt beim Thema Selbstoptimierung niemand an Kirche?
Ich glaube, die Kirche hatte lange etwas dazu zu sagen. Diese ganze Idee
der Heiligung, wie man sie bei Calvin beispielsweise findet, ist sehr
anschlussfähig an das, was wir heute Selbstoptimierung nennen. Das
bedeutet, mein Wert ist schon von Beginn an festgelegt, und jetzt kann
es losgehen. Aber ich erlebe die Kirche heute oft auch so, dass sie mich ständig als «Opfer» thematisiert. Ich würde mir eine andere
Herangehensweise wünschen.
In der
Pandemiekrise klang die Kommunikation der Kirche nach: «Es ist alles
ganz schrecklich, es ist unübersichtlich, es ist hart, aber findet
irgendwie Vertrauen.» Da hätte man sich auch eine andere Art der
Seelsorge vorstellen können. Zum Beispiel: Du kannst anfangen mit einem
15-minütigen Spaziergang, und versuch mal, die letzten fünf Minuten
schneller zu gehen. Schau mal, was das mit dir macht. Vielleicht nimmst
du etwas wahr, was dir guttut. Vielleicht habt ihr andere Ideen, was
guttut. Kommt, wir sammeln das mal auf einer Plattform.
Spazierengehen und Fasten sind auch physische Dinge. In der reformierten Tradition ist viel Kopfarbeit angesagt. Gibt es da ein Körperproblem?
Wir Menschen moralisieren sehr schnell, was wir selbst nicht verstehen oder nicht erleben. Selbstoptimierung ist ja eine Sache, die vor allem mit
einem selbst zu tun hat. Oft kommen dann Gedanken auf wie: Wie kannst du das wichtig finden, wenn die Menschen woanders Hunger haben? Das sind
alles wichtige Punkte, aber es ist falsch, das gegeneinander
auszuspielen. Und wir neigen dazu, schnell Selbstoptimierung
oberflächlich zu finden. Das Gegenteil ist der Fall: Erfahrungen, die
Menschen mit ihrem Körper machen, sind gar nicht oberflächlich. Ich
nehme Dinge anders wahr. Zum Beispiel: Krass, der Lärm hat mich am
Morgen im Zug immer genervt. Jetzt, wo ich regelmässig laufe, bin ich
viel entspannter.