Recherche 23. März 2022, von Constanze Broelemann

«Es gibt Selbstoptimierung in einem guten Sinn»

Gesundheit

«Höher, schneller, weiter» wird in der Kirche oft kritisch gesehen. Dabei kann der Wunsch, sich stetig weiterentwickeln zu wollen, gut sein. Vorausgesetzt, die Basis stimmt.

Stephan Jütte, 38

Der promovierte Theologe leitet das RefLab der reformierten Landeskirche des Kantons Zürich. Er beschäftigt
sich beruflich mit dem Glauben und glaubt fest an regelmässigen Sport und ausgiebiges Feiern. Mit seiner Familie lebt er in Bern.

Ich erlebe Kirche heute oft so, dass sie mich als Opfer thematisiert.
Stephan Jütte, Theologe

Die Zeit vor Ostern nutzen viele Menschen zum Fasten. Gehört Fasten schon in den Bereich der Selbstoptimierung?
Stephan Jütte: Es gibt zwei Arten von Fasten. Das Intervallfasten, eine Art Diät, bei der ich die Kalorienaufnahme reduziere, indem ich die Aufnahmezeit begrenze. Das gehört für mich in den klassischen Bereich einer Selbstoptimierung. Dann gibt es noch das Fasten als Unterbrechung aus dem Alltag, also das Heilfasten. Man nimmt sich so Zeit, seine Sinne zu schärfen. Dieser Freiraum, den man in der Fastenzeit bekommt, kann eine Phase vor einer Selbstoptimierung sein. Man hat Platz, darüber nachzudenken, was einem guttun würde.

Was verstehen Sie unter Selbstoptimierung?
Meiner Meinung nach müssen drei Punkte gegeben sein, damit etwas eine Selbstoptimierung ist: Es muss etwas sein, was ich messbar steigern will. Es ist ein Prozess, der nie abgeschlossen ist. Es ist etwas, was mit der Person, die sich optimiert, zu tun hat. Ich optimiere mich nicht für die Familie, den Sportverein. Es ist eine ganz persönliche Sache.

Und ist daran etwas schlimm?
Erst mal ist gar nichts an Selbstoptimierung problematisch. Es ist eher ein Problem, das Kirchen mit dem Phänomen haben. Dieses Gefühl in kirchlichen Kreisen, dass man Leistung nicht gut finden darf. Ich glaube, es gibt eine Selbstoptimierung im guten Sinn. Also jemand mag sich, lebt in einem intakten Umfeld, in dem sie oder er Liebe empfängt, ohne etwas leisten zu müssen, und setzt sich dann Ziele und versucht, sich laufend zu verbessern.
 
Warum denkt beim Thema Selbst­optimierung niemand an Kirche?
Ich glaube, die Kirche hatte lange etwas dazu zu sagen. Diese ganze Idee der Heiligung, wie man sie bei Calvin beispielsweise findet, ist sehr anschlussfähig an das, was wir heute Selbstoptimierung nennen. Das bedeutet, mein Wert ist schon von Beginn an festgelegt, und jetzt kann es losgehen. Aber ich erlebe die Kirche heute oft auch so, dass sie mich ständig als «Opfer» thematisiert. Ich würde mir eine andere Herangehensweise wünschen.
In der Pandemiekrise klang die Kommunikation der Kirche nach: «Es ist alles ganz schrecklich, es ist unübersichtlich, es ist hart, aber findet irgendwie Vertrauen.» Da hätte man sich auch eine andere Art der Seelsorge vorstellen können. Zum Beispiel: Du kannst anfangen mit einem 15-minütigen Spaziergang, und versuch mal, die letzten fünf Minuten schneller zu gehen. Schau mal, was das mit dir macht. Vielleicht nimmst du etwas wahr, was dir guttut. Vielleicht habt ihr andere Ideen, was guttut. Kommt, wir sammeln das mal auf einer Plattform.

Spazierengehen und Fasten sind auch physische Dinge. In der reformierten Tradition ist viel Kopf­arbeit angesagt. Gibt es da ein Körperproblem?
Wir Menschen moralisieren sehr schnell, was wir selbst nicht verstehen oder nicht erleben. Selbstoptimierung ist ja eine Sache, die vor allem mit einem selbst zu tun hat. Oft kommen dann Gedanken auf wie: Wie kannst du das wichtig finden, wenn die Menschen woanders Hunger haben? Das sind alles wichtige Punkte, aber es ist falsch, das gegeneinander auszuspielen. Und wir neigen dazu, schnell Selbstoptimierung oberflächlich zu finden. Das Gegenteil ist der Fall: Erfahrungen, die Menschen mit ihrem Körper machen, sind gar nicht oberflächlich. Ich nehme Dinge anders wahr. Zum Beispiel: Krass, der Lärm hat mich am Morgen im Zug immer genervt. Jetzt, wo ich regelmässig laufe, bin ich viel entspannter.