Recherche 18. November 2022, von Nadja Ehrbar

«Der Kampf, den wir jetzt führen, ist der wahre Kampf»

Ausland

Der Palästinenser Bassam Aramin und der Israeli Rami Elhanan erzählen im Interview, weshalb sie nicht auf Rache, sondern auf Dialog setzen und was sie von den Wahlen halten.

Sie haben beide im israelisch-palästinensischen Konflikt je eine Tochter verloren und sind trotzdem Freunde geworden. Statt sich von Wut und Hass leiten zu lassen, setzen Sie sich mit Worten für den Frieden ein. Was hat Sie dazu gebracht?

Bassam Aramin: Rami Elhanan und ich haben einen hohen Preis bezahlt. Das Blut unserer Töchter hatte die gleiche Farbe, wir haben dieselben Tränen geweint. Wenn wir also miteinander reden können, weshalb sollten das andere nicht auch können? Der Kampf, den wir jetzt führen, ist für mich der wahre Kampf. Nämlich die Stimme gegen eine Diktatur zu erheben.

Sie und die Organisation «Parents Circle – Families Forum» sind damit in der Minderheit. Warum? 

Aramin: Es ist sehr schwierig. Beide Seiten müssten den Schmerz des anderen respektieren können. Ich bin überzeugt, dass uns die Liebe zu unseren Kindern zusammenführen wird. Wir haben die moralische Verpflichtung, unsere Hände und Stimmen zu erheben und kein Blut mehr zu vergiessen. Das ist für mich logisch, aber halt sehr schwierig. 

Sie glauben an eine Aussöhnung

Der 55-jährige Bassam Aramin wuchs nahe Hebron im Westjordanland auf und schloss sich der Fatah-Bewegung an. Schon mit 17 musste er für sieben Jahre ins Gefängnis, weil er einen Angriff auf israelische Truppen geplant hatte. Vor seiner Entlassung verpflichtete er sich zu Gewaltlosigkeit und zur Förderung von Frieden und Dialog. 

2005 gründete er mit anderen Friedensaktivisten die Initiative «Combatants for Peace» (Kämpfer für den Frieden). Die Gruppe bestand aus ehemaligen israelischen Militärangehörigen und aus einstigen palästinensischen militanten Kämpfern, die in israelischen Gefängnissen sassen.

Rami Elhanan, heute 73-jährig, ist der Sohn eines ungarischen Holocaust-Überlebenden aus Jerusalem. Er kämpfte unter anderem 1973 als Soldat während des Jom-Kippur-Krieges gegen verschiedene arabische Staaten und verlor einige seiner besten Freunde. 

Seine Tochter wurde vor ihrem 14. Geburststag bei einem Selbstmordanschlag getötet. An einem Forum für Hinterbliebene begreift Elhanan, dass es auch trauernde Palästinenser gibt. Bei den «Combatants of Peace» lernt er Bassam Aramin kennen. Als dessen Tochter durch ein Gummigeschoss ihr Leben auf ebenso tragische Weise verliert, sind die beiden bereits Freunde. 

Die beiden sind Mitglied der Organisation «Parents Circle – Families Forum», der über 600 israelische und palästinensische Familien angehören, die im israelisch-palästinensischen Konflikt Verwandte verloren. Sie setzen sich für eine Aussöhnung der beiden Völker ein – indem sie etwa Schulen in Israel und im Westjordanland besuchen, zu Diskussionen einladen und die Medien informieren.

Israel hat kürzlich ein neues Parlament gewählt. Das rechts-religiöse Lager hat am meisten Stimmen geholt und wird wohl mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu auch den Regierungschef stellen. Was heisst das für Israel?

Aramin: Für den Rest der Welt ist das vielleicht eine neue Regierung, für mich als Palästinenser ist sie aber die gleiche. Netanjahu wird weiter Land annektieren und neue Gebiete besetzen. Ich habe nichts anderes erwartet.

Rami Ehlhanan: Ich sehe das auch, es hat sich nichts geändert. Der rechte Flügel regiert seit 30 Jahren. Und nun wird es noch schlimmer werden. Das einzig Positive ist, dass die Maske Israels gefallen ist. Es ist kein liberales westliches Land, in dem demokratische Werte gelten. Zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer leben über 10 Millionen Menschen. Die Hälfte davon sind Araber, der Rest Juden. Erstere brauchen aber die Erlaubnis Israels, wenn sie beispielsweise Schulen bauen wollen oder wenn es um Themen wie Wasser oder Elektrizität geht. 

Die europäischen Länder schauen zu, wie Israel seine Verbrechen begeht, und tun nichts dagegen.
Rami Elhanan, Israeli

Wie wird sich der Rechtsrutsch auf die internationalen Beziehungen auswirken?

Elhanan: Das ist eine gute Frage! Wir wissen es nicht. Die europäischen Länder schauen zu, wie Israel seine Verbrechen begeht und tun nichts dagegen. Ich habe wenig Hoffnung, dass sich das ändern wird. Weil sie in die Geschichte verwickelt sind und sich wegen des Holocausts schuldig fühlen.

Glauben Sie überhaupt noch an den Frieden?

Aramin: Es steht nirgends geschrieben, dass wir uns ewig bekämpfen werden. Unser Konflikt ist nicht der erste auf dieser Welt und wird auch nicht der letzte sein. Frieden ist möglich mit einem Leader, der uns in die Zukunft führt und uns von der schmerzvollen Vergangenheit löst. 

Elhanan: Wir würden nicht tun, was wir tun, wenn wir nicht an den Frieden glaubten. Unsere Organisation ist keine psychologische Selbsthilfegruppe. Was uns verbindet, ist die Besatzung, die uns unsere Kinder genommen hat. Wir haben sie verloren, weil das eine Volk das andere beherrscht. Unsere Mission ist es, zu zeigen, dass es eine Lösung gibt. Sie ist der Grund, um morgens aufzustehen.

Sie gehen in Israel unter anderem in Schulen, um über ihre persönlichen Tragödien zu berichten. Wie reagieren die Schülerinnen und Schüler?

Elhanan:  Es ist, als würden wir in den offenen Krater eines aktiven Vulkans hineinmarschieren. Die jungen Menschen hören an der Schule nur immer die eine Seite, sie sollen schliesslich darauf vorbereitet werden, sich für den Krieg zu opfern. Es gibt viel Wut und Emotionen. Die meisten von ihnen haben noch nie einen Palästinenser und einen Israeli gesehen, die sich als Brüder bezeichnen. Es ist daher eindrücklich zu sehen, wie unsere Geschichten sie berühren.  

Haben Sie auch Kontakt zur Regierung?

Elhanan: Nein, zumindest nicht in den letzten 22 Jahren. Sie mag uns nicht besonders, weil wir ihr mit unseren Aktivitäten vor Augen führen, dass es mit den unterschiedlichsten Menschen viel zu besprechen gäbe. Doch ihre Politik in den letzten Jahren lautete: Wir haben mit niemandem etwas zu besprechen.

Die Besatzung ist der gemeinsame Feind. Das müssten beide Seiten einsehen.
Bassam Aramin, Palästinenser

Sie kämpfen für ein friedliches Nebeneinander beider Völker. Wie soll das gehen?

Aramin: Die Israelis werden ihr Land nach dem Holocaust und nach Jahren der Diskriminierung nicht aufgeben. Und die Palästinenser ihrerseits werden die israelische Besatzung niemals akzeptieren. Die Besatzung ist der gemeinsame Feind. Das müssten beide einsehen. Erst dann können sie als freie Völker in Würde nebeneinander leben. 

Elhanan: Wir könnten das Paradies haben, wenn wir uns gegenseitig respektierten. Frieden wird es dann geben, wenn der Preis, weiter zu kämpfen, höher sein wird als der Preis, den der Frieden kostet. Es geht nicht darum, für Israel oder für Palästina zu sein, sondern dagegen, dass das eine Volk das andere kontrolliert.