Recherche 22. November 2021, von Felix Reich

Durch den Glauben politisiert

Musik

Pfarrer Christoph Sigrist und Komponist Hans-Jürgen Hufeisen haben eine Messe über den Theologen Dietrich Bonhoeffer geschrieben. Sie ist politisch brisant wie der Glaube selbst.

In der dunkelsten Stunde hebt die Messe zum Jubel an. Eigentlich hatte der Komponist Hans-Jürgen Hufeisen bereits einen Choral geschrieben, der das Stück über Dietrich Bonhoeffer abschliessen sollte.

Doch da war dieser letzte Satz, der vom deutschen Theologen und Widerstandskämpfer gegen die Nationalsozialisten überliefert ist: «Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens.» In der Morgendämmerung des 9. April 1945 wurde er im Lager Flossenbürg erhängt.

Das Zeugnis eines Gottvertrauens, das über den Tod hinausgeht, liess Hufeisen nicht los. Bonhoeffer kleidete seine Gewissheit, dass sein Passionsweg am Galgen ende, ihm dafür das Osterlicht umso stärker leuchten werde, in schlichte Worte.

Gandhi und die Bergpredigt

Hufeisen schrieb das Ende der Messe um. Deshalb erklingt im Zürcher Grossmünster, wo das Musikstück am 4. Dezember uraufgeführt wird, zuletzt ein Weltenjubel: «Gehet hin, ihr seid gesandt.» 

Eine politische Messe

Die Messe von Hans-Jürgen Hufeisen und Christoph Sigrist wird am 4. Dezember im Zürcher Grossmünster uraufgeführt. Eine zweite Aufführung findet am 5. Dezember ebenfalls im Grossmünster statt. Der Vorverkauf hat via See Tickets bereits begonnen.

In einem engen Zimmer im Kulturhaus Helferei sitzt der Komponist und Flötist am Laptop. Was wie eine Sitzung wirkt, ist eine Probe. Hufeisen spielt Schnipsel seiner Komposition ab, singt stellenweise mit. Mit am Tisch sind Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist, Produzentin Alexandra Steinegger, Dirigent Davide Fior sowie Franziska Driessen-Reding und Amira Hafner-Al Jabaji. Die Präsidentin des Synodalrats der Katholischen Kirche im Kanton Zürich und die Publizistin treten je in einer der beiden Aufführungen als Sprecherinnen auf.

Dass Sigrist, der das Libretto geschrieben hat, die Messe über konfessionelle und religiöse Grenzen hinweg öffnet, hat nicht zuletzt mit einem Brief Bonhoeffers an Mahatma Gandhi zu tun. Der Text, der lange als verschollen galt, berichtet von Bonhoeffers Verzweiflung angesichts einer Kirche, die sich mit dem Naziregime arrangiert hatte. Bereits 1934 sah der Theologe den Krieg voraus und erzählte dem hinduistischen Freiheitskämpfer von seiner Überzeugung, «dass nur wahres Christentum unseren westlichen Völkern zu einem neuen, geistlich gesunden Leben verhelfen kann».

Brücken schlagen

Aus der Bergpredigt, in der Jesus die Gewaltlosen seligpreist, müsse «die westliche Christenheit neu geboren werden», schrieb der damals 28-jährige Pfarrer an den Inder, der die britische Kolonialmacht gewaltfrei und durch zivilen Ungehorsam bekämpfte. Er bat um Aufnahme in Gandhis Gemeinschaft, um ihn kennenzulernen, von ihm zu lernen.

Der Brief ist ein Lehrstück für den interreligiösen Dialog, das aktueller nicht sein könnte. Denn die Unterschiede zwischen den Religionen werden nicht negiert, vielmehr wächst gerade aus der Verwurzelung im eigenen Glauben heraus die Kraft, Brücken zu schlagen. Bonhoeffer habe sich dem Willen Gottes ganz ergeben und sich zugleich für Schwache und die Opfer der Gewalt eingesetzt, für Gerechtigkeit in der Welt gekämpft, sagt Amira Hafner-Al Jabaji. «Diesen Glaubensweg verlangt auch der Islam.» 

Der Schrei und der Gesang

Bonhoeffer brach nie nach Indien auf. Die Leitung des Predigerseminars der Bekennenden Kirche, die sich von der nazifreundlichen Evangelischen Kirche gelöst hatte, zu übernehmen, erschien ihm dringlicher. Seinen Schülern sagte er: «Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.»

Für Christoph Sigrist ist das ein Schlüsselsatz für Bonhoeffers Kirchenverständnis, «das nichts an Aktualität verloren hat». Und Anstoss gebe, «angesichts der humanitären Katastrophen Widerstand zu leisten». In seiner Messe lässt Sigrist den Chor in die Stille hinein die Namen der Flüchtlinge murmeln, die im Meer ertrunken sind.