Recherche 22. Oktober 2020, von Eva Mell

«Mendelssohn light» mit Hygienemaske

Projektchor

Der Projektchor «CHORona» des Aargauer Kantors Dieter Wagner nimmt viel auf sich, um am 1. November in der Stadtkirche Aarau auftreten zu können. Ein Probenbesuch.

Im Herbst 2020 ist es das Normalste der Welt, einen Zollstock zur Chorprobe mitzubringen. Eine Sängerin klappt im Zwinglihaus in Aarau das Metermass auf eine Länge von 1,50 Meter aus und misst die Abstände zwischen den Stühlen. Sie nickt zufrieden und setzt sich. Nach und nach trudeln rund 40 Personen ein, die beim Projektchor CHORona des Aarauer Kantors Dieter Wagner mitsingen. Sie lächeln einander zu. Diese Geste sieht man tatsächlich durch ihre Masken.

40 statt 130 Personen im Chor

«Den Projektchor CHORona habe ich geplant, als im Frühjahr das gemeinsame Singen wegen des Corona-Virus verboten wurde», erzählt der Kirchenmusiker Dieter Wagner im Gespräch. Zu jenem Zeitpunkt wurde ihm klar, dass die Aarauer Mendelssohntage, die im November zum sechsten Mal stattfinden sollen, nicht so durchgeführt werden können, wie er sie geplant hatte. Was also tun? Alles absagen? Das kam für ihn nicht in Frage. Stattdessen plante er die „Mendelssohntage light“ mit einem kleineren Chor als gewöhnlich. «Normalerweise singen bei mir 130 Personen, in diesem Jahr sind es etwa 40», sagt er. Die Sängerinnen und Sänger haben monatelang allein zu Hause mit Hilfe einer App geübt, sie haben sich über die Videokonferenz-Software Zoom zur virtuellen Probe getroffen und sich nur an zwei Probenwochenenden im August und im Oktober gesehen.

«Ein bisschen verrückt muss man schon sein, um hier mitzumachen», sagt Dieter Wagner schmunzelnd. Schliesslich sei es bis zum letzten Tag unklar, ob die Konzerte wirklich stattfinden dürfen. Der Kantor hat so vorausschauend geplant wie es ging. Der Chor soll drei Musikstücke singen und pro Stück nicht länger als 30 Minuten auf der Bühne stehen. Im Anschluss werde es jeweils Lüftungspausen geben. Das Chorpodest sei gross genug, um die Sängerinnen und Sänger mit 1,50 Meter Abstand voneinander zu platzieren. Als die Infektionszahlen im Oktober in die Höhe schnellen, beschliesst er, seinen Chor mit Mundschutz singen zu lassen. Rund 40 Masken tanzen während der Chorprobe zu den Lippenbewegungen ihrer Trägerinnen und Träger auf und ab. Der Stoff wandert bei der Einatmung nach innen und wölbt sich gemeinsam mit einem kräftigen Ton nach aussen. Nach und nach füllt sich jeder Winkel des Probenraums mit Gesang.

Risiko nicht zu hoch

«Lüftungspause!», verkündet Dieter Wagner nach rund 45 Minuten und öffnet die drei Schiebetüren so weit es geht, die bereits während der Probe einen Spaltweit geöffnet waren. «Entschuldigt, wenn der Flügel ein wenig verstimmt sein sollte. Der Luftzug...», fügt er hinzu. Die Bedingungen sind nicht optimal beim letzten Probenwochenende vor dem Auftritt. Aber alle, die gekommen sind, sind sich einig: Ein Konzert mit Einschränkungen ist besser als gar keins. Doch ist das in der jetzigen Situation nicht total unvernünftig? «Ich habe mich in den letzten Tagen hin und wieder gefragt, ob es wirklich gut ist, was wir hier machen», erzählt eine Sängerin in der Lüftungspause. Nüchtern betrachtet sei das Risiko ihrer Meinung nach jedoch nicht zu hoch. Die anderen befragten Sängerinnen und Sänger sehen das ähnlich. Da heisst es: «Wir achten doch auf alles, was man tun soll.“»

Oder: «Wenn wir nicht singen und keine Gemeinschaft miteinander haben, bricht ein Stück gesellschaftliches Miteinander weg.» Und auch: «Ich habe mich gefragt, ob ich das Risiko eingehen will. Aber der Chor hilft mir, positive Energie zu sammeln für die Zeit, in der wir uns wieder stark einschränken müssen.» Doch jetzt zurück auf die Plätze. Die Lüftungspause ist vorbei. «Man kann sich in die Maske ganz gut zurückziehen», mahnt der Kantor und sagt: «Zeigt mir die Präsenz durch eure Augen.» Kraftvoller als zuvor treten die Töne aus dem Mundschutz hervor. Nein, die Maske störe nicht beim Singen, sagen die Sängerinnen und Sänger auf Nachfrage. Sie helfe ihnen sogar, sich selbst besser zu hören. Einzig das Luftholen sei mit dem Stück Stoff im Gesicht schwerer.

Ungewissheit bis zum letzten Tag

«Und jetzt singen wir die Stelle Q wie Quarantäne», sagt Dieter Wagner und tippt auf das Notenblatt. Die «CHORona»-Sängerinnen und –Sänger schmunzeln erst, holen tief Luft und tun dann, was sie solange tun wollen, wie es die Pandemie-Regeln erlauben: Sie singen gemeinsam. Bis Redaktionsschluss der gedruckten Zeitung gab es noch kein Verbot von Chorkonzerten im Kanton Aargau. Kantor Dieter Wagner betont: «Wir können nur von Tag zu Tag planen.» Deshalb empfiehlt er, kurzfristig auf der Website www.mendelssohntage.ch die aktuellsten Informationen nachzulesen. Dort wurde am 30. Oktober folgende Meldung aufgeschaltet: «Aufgrund des bundesrätlichen Entscheids vom 28. Oktober müssen wir leider sämtliche Aufführungen mit Chor absagen. Auch die Konzerte mit dem Geiger Linus Roth können nicht stattfinden. Alle unsere restlichen Veranstaltungen werden jedoch nach Möglichkeit durchgeführt. Dem Festivalprogramm können Sie genauere Informationen zu den einzelnen Konzerten entnehmen.»