Andrea Stalder hat gerade ihren Mann verabschiedet, der ein zweites Mal nach Polen losgefahren ist, um Familienmitglieder von Gev und Sona in die Schweiz zu bringen. Gev und Sona sind mit Stalders am 6. März von Dorohusk an der ukrainischen Grenze nach Buchen im Prättigau gekommen. Zusammen mit der zweijährigen Tochter, der 73-jährigen Grossmutter und dem Baby, das eine zweite Hirnoperation in Kiew überstanden hatte. Gev, der immer für alle das Mittagessen kocht, raucht und telefoniert. Als er sich an den Küchentisch setzt, wirkt er fahrig und doch fokussiert. Seine Sorge gilt dem Neugeborenen. «Alles, was ich mir wünsche, ist Gesundheit für mein Kind», sagt er auf Ukrainisch in sein Handy, das mittels App sofort ins Deutsche übersetzt. Gev und Sona ging es gut in Kiew. Mit ihrem Verdienst konnten sie sich eine kleine Wohnung in der Stadt kaufen. Wie viele der rund drei Millionen Einwohner in Kiew arbeiteten sie zwölf Stunden am Tag, er als Koch, sie als Bäckerin. Nach dreizehn Jahren ging dann auch der ersehnte Kinderwunsch in Erfüllung.Das Glück war vollkommen, als Sona unerwartet ohne künstliche Hilfe schwanger wurde und Milena vor vier Monaten zur Welt kam. «Milena brachte uns grosses Glück, doch gleich darauf kam das grosse Leid», sagt Gev.
Wichtige Entscheidung
Damit meint er nicht nur den Krieg. Bei Milena wurde ein Hirntumor diagnostiziert. Sieben Tage nach Milenas letzter Operation zerstörte eine Bombardierung Gevs Nachbarhaus. Der Druck zerstörte auch sämtliche Fenster in seiner Wohnung, wo sich Gev, die invalide Grossmutter und die ältere Tochter befanden. Gev reagierte sofort, fuhr mit beiden zum Spital, holte Mutter und Tochter ab und verliess die Stadt. «Ich raste teilweise mit 170 Stundenkilometern über zerstörte Strassen. Dadurch riss der Keilriemen. Hinter mir fielen Bomben. Ich schaffte es gerade noch bis zur Grenze.» Am Grenzübergang Dorohusk verteilten Andrea und ihre Familie Hilfsgüter. In den Erstaufnahmezentren hinterliessen sie ihre Telefonnummern, falls Geflüchtete in die Schweiz wollten. Kurz darauf rief eine polnische Lehrerin an und fragte, ob sie bereit wäre, ein schwerkrankes Kind mit Familie aufzunehmen. «Gott gibt niemandem eine Aufgabe, der er nicht gewachsen ist», fuhr es der Juristin und Kommunikationsfachfrau sofort durch den Kopf und sie sagte einfach zu. «Unser Leben hat sich seither komplett verändert.»
Glaube gefunden
Jeden Tag fährt Andrea mit Sona ins Kinderspital nach Zürich. «Die Kiewer Ärzte haben die medizinische Übergabe gut vorbereitet. Sogar Gewebeproben des Tumors gaben sie Sona mit», sagt Andrea. Die Kosten übernimmt der Bund oder eine Krankenkasse, sobald die Familie den Schutzstatus S hat. Vielleicht kommt das Baby bald vorübergehend nach Hause. Andrea organisiert schon jetzt die Pflege, ein Umbau ist notwendig und bereits eingeleitet. Die Grossmutter erholt sich langsam, weint nicht mehr so oft. Sie freut sich, als sie hört, dass Besuch von der Kirche da ist. Zur Religion hatte Gev früher keinen Bezug. Seit der Flucht glaubt er an einen Gott. Ist er nicht enttäuscht von der Kirche, die bisher wenig in diesem Krieg ausrichtet? «Kirche ist die Gemeinschaft von Menschen. Die Kirche hat uns nicht enttäuscht. Wir sind enttäuscht von den Menschen, die nur aus Eigeninteresse nicht die Wahrheit sagen.»
In diesem Video von der CNN ist die Familie aus Kiew im grössten Kinderspital der Ukraine zu sehen.