Das Haus ist voll. Knapp 30 Personen versammeln sich zur Pfingstandacht im Centro Evangelico di Cultura. Auch viele Katholiken besuchen das Centro. Übertragen wird der Gottesdienst aber auch via Internet, denn in Norditalien bestehen zum Teil noch immer Corona-Massnahmen wie beispielsweise die Maskenpflicht bei Veranstaltungen. «Viele können auch aus anderen Gründen den Weg ins Centro nicht mehr auf sich nehmen und schätzen die Teilnahme via Internet», erklärt Pfarrer Emanuele Campagna. Der 38-jährige Mailänder ist von Freitag bis Sonntag in Sondrio für Reformierte und Katholiken anwesend. Für mehr reicht das Geld derzeit nicht.
Dialog der Konfessionen
Gegründet wurde das Centro vor über 50 Jahren von Pfarrer Franco Felice Scopacasa. «Bewusst wollte der Pfarrer damals keine evangelische Kirche im katholischen Veltlin», erklärt Romedi Arquint. Arquint ist Theologe und betreut im Namen des Protestantisch-kirchlichen Hilfsvereins Graubünden die Aktivitäten des Centro. «Scopacasa war kein Missionar», erklärt Arquint. «Vielmehr war er ein Sämann. Sein Wunsch war einfach, neue Impulse zu setzen.» Zudem wollte der Pfarrer damals ohne Mitglieder keine Kirche gründen. Denn Reformierte gab es kaum im katholischen Veltlin. «Vielmehr bezweckte er die Förderung des Dialogs zwischen den Konfessionen», so Arquint. Das Centro sollte Menschen die Möglichkeit für eine zeitgemässe Auseinandersetzung mit biblischen und weltlichen Themen geben. Dazu gehört auch das Aufarbeiten der historischen Ereignisse. Auch wenn diese über 200 Jahre zurückliegen, prägen sie die Menschen im Veltlin bis heute. Denn nachdem Napoleon die Bündner Herrschaft zerschlagen hatte, gehörte das Veltlin ab Beginn des 19. Jahrhunderts wieder zum Königreich Italien.
Hilfe aus Graubünden
Die Wohnung im Erdgeschoss des mehrstöckigen Hauses an der Via Malta in der Nähe des Stadtspitals von Sondrio sowie den Versammlungsraum vermachte der frühere Pfarrer Franco Felice Scopacasa dem Protestantisch-kirchlichen Hilfsverein Graubünden. Der Verein sichert auch einen Teil des Lohns des derzeitigen Pfarrers. «Wir kümmern uns vor allem um die Diasporaarbeit», erklärt Romedi Arquint. «Dass nach so vielen Jahren wieder Aktivitäten im Centro stattfinden, gibt Anlass zur Freude», meint er. Während Jahrzehnten der Unbeständigkeit und infolge vieler Wechsel wurde es verpasst, das Centro nachhaltig aufzubauen.
Harte Arbeit
Finanziert werden die Aktivitäten im Veltlin auch durch die Evangelische Landeskirche Graubünden. Die Unterstützung der Diasporaarbeit, also die Unterstützung der dortigen reformierten religiösen Minderheit, ist Teil ihrer Aufgaben. Die Landeskirche zahlt der Kirchgemeinde Brusio einen regelmässigen Betrag für die Aktivitäten im Veltlin. «Das Veltlin ist die einzige Region jenseits der Landesgrenze, die von uns finanziell unterstützt wird», erklärt Arquint. Nach dem Pfingstgottesdienst verabschiedet Pfarrer Campagna alle persönlich. Danach bereitet er schon die nächsten Anlässe vor. Im Juli soll noch ein Vortrag zum Thema Frauen in der 68er-Revolution stattfinden. Und erst kürzlich, Ende Mai, wurde ein Gesprächsabend zum Thema Frauen in Afghanistan veranstaltet. «Der Anlass war gut besucht», meint der Pfarrer. Er sei stets beschäftigt, neben den Gottesdiensten und der Seelsorge auch kulturelle Veranstaltungen auf die Beine zu stellen. Alle Namen und Kontaktdaten gingen über die Jahre verloren. «Die Reformierten wieder zu aktivieren, ist jetzt meine Hauptaufgabe», sagt er.
www.sondrioevangelica.org