Recherche 28. Juni 2022, von Mayk Wendt

Ökumenisches Leben erwacht im Veltlin

Ökumene

Nach über 50 Jahren ist der Neubeginn des Centro Evangelico di Cultura in Sondrio im Veltlin gelungen. Katholiken und Reformierten steht es gleichermassen offen.

Das Haus ist voll. Knapp 30 Personen versammeln sich zur Pfingst­andacht im Centro Evangelico di Cultura. Auch viele Katholiken besuchen das Centro. Übertragen wird der Gottesdienst aber auch via Internet, denn in Norditalien bestehen zum Teil noch immer Corona-Massnahmen wie beispielsweise die Maskenpflicht bei Veranstaltungen. «Viele können auch aus anderen Gründen den Weg ins Centro nicht mehr auf sich nehmen und schätzen die Teilnahme via Internet», erklärt Pfarrer Emanuele Campagna. Der 38-jährige Mailänder ist von Freitag bis Sonntag in Sondrio für Reformierte und Katholiken anwe­send. Für mehr reicht das Geld derzeit nicht.

Dialog der Konfessionen

Gegründet wurde das Centro vor über 50 Jahren von Pfarrer Franco Felice Scopacasa. «Bewusst wollte der Pfarrer damals keine evangelische Kirche im katholischen Veltlin», erklärt Romedi Arquint. Arquint ist Theologe und betreut im Namen des Protestantisch-kirchlichen Hilfsvereins Graubünden die Aktivitäten des Centro. «Scopacasa war kein Missionar», erklärt Arquint. «Vielmehr war er ein Sämann. Sein Wunsch war einfach, neue Impulse zu setzen.» Zudem wollte der Pfarrer damals ohne Mitglieder keine Kirche gründen. Denn Reformierte gab es kaum im katholischen Veltlin. «Vielmehr bezweckte er die Förderung des Dialogs zwischen den Konfessionen», so Arquint. Das Centro sollte Menschen die Möglichkeit für eine zeitgemässe Auseinandersetzung mit biblischen und weltlichen Themen geben. Dazu gehört auch das Aufarbeiten der historischen Ereignisse. Auch wenn diese über 200 Jahre zurückliegen, prägen sie die Menschen im Veltlin bis heute. Denn nachdem Napoleon die Bündner Herrschaft zerschlagen hatte, gehörte das Veltlin ab Beginn des 19. Jahrhunderts wieder zum Königreich Italien.

Hilfe aus Graubünden

Die Wohnung im Erdgeschoss des mehrstöckigen Hauses an der Via Malta in der Nähe des Stadtspitals von Sondrio sowie den Versammlungsraum vermachte der frühere Pfarrer Franco Felice Scopacasa dem Protestantisch-kirchlichen Hilfsverein Graubünden. Der Verein sichert auch einen Teil des Lohns des derzeitigen Pfarrers. «Wir kümmern uns vor allem um die Diasporaarbeit», erklärt Romedi Arquint. «Dass nach so vielen Jahren wieder Aktivitäten im Centro stattfinden, gibt Anlass zur Freude», meint er. Während Jahrzehnten der Unbeständigkeit und infolge vieler Wechsel wurde es verpasst, das Centro nachhaltig aufzubauen.

Harte Arbeit

Finanziert werden die Aktivitäten im Veltlin auch durch die Evangelische Landeskirche Graubünden. Die Unterstützung der Diasporaarbeit, also die Unterstützung der dortigen reformierten religiösen Minderheit, ist Teil ihrer Aufgaben. Die Landeskirche zahlt der Kirchgemeinde Brusio einen regelmässigen Betrag für die Aktivitäten im Veltlin. «Das Veltlin ist die einzige Region jenseits der Landesgrenze, die von uns finanziell unterstützt wird», erklärt Arquint. Nach dem Pfingstgottesdienst ver­abschiedet Pfarrer Campagna alle persönlich. Danach bereitet er schon die nächsten Anlässe vor. Im Juli soll noch ein Vortrag zum Thema Frauen in der 68er-Revolution stattfinden. Und erst kürzlich, Ende Mai, wurde ein Gesprächsabend zum Thema Frauen in Afghanistan veranstaltet. «Der Anlass war gut besucht», meint der Pfarrer. Er sei stets beschäftigt, neben den Gottesdiensten und der Seelsorge auch kulturelle Veranstaltungen auf die Beine zu stellen. Alle Namen und Kontaktdaten gingen über die Jahre verloren. «Die Reformierten wieder zu aktivieren, ist jetzt meine Hauptaufgabe», sagt er.

www.sondrioevangelica.org

Hilfe über die Grenzen

Der Protestantisch-kirchliche Hilfs­verein Graubünden fördert das kirchliche und religiöse Leben im Kanton Graubünden, insbesondere Kirchgemeinden im Finanzausgleich und in der Diaspora. Auch die Arbeit von Kirchgemeinschaften im nahen Ausland (etwa im Veltlin) profitiert davon. Der Protestantisch-kirchliche Hilfsverein ist Teil der Protestantischen Solidarität Schweiz (PSS) und damit mit anderen Hilfsvereinen verbunden.