Recherche 23. Februar 2021, von Marius Schären

«Diese Verharmlosung ist ein grosses, grobes Problem»

Gesellschaft

Insgesamt keine Zunahme, aber eine Verlagerung von Äusserungen: Der Antisemitismusbericht zeigt Befunde, die dem Israelitischen Gemeindebund grosse Sorgen bereiten.

Am 20. Februar demonstrierten in Wohlen AG rund 1500 Personen gegen die Coronamassnahmen – mit dabei Transparente mit dem Spruch «Impfen macht frei». Am 18. Februar waren an der Bieler Synagoge – in der Tür eingeritzt – ein Hakenkreuz und die Parolen «Sieg Heil» und «Juden Pack» entdeckt worden.

Die beiden kurz aufeinander folgenden Ereignisse verweisen auf zwei wichtige Aspekte des Antisemitismusbericht 2020 des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) von heute. Die Erhebungen zeigten zwar insgesamt «weiterhin ein tiefes Niveau der Zahl physischer und verbaler» Vorfälle. Offline wurden 47 Beschimpfungen, «Schmierereien», Sachbeschädigungen und anderes, online mit 485 genau gleich viele Vorfälle wie 2019 gezählt.

Versteckte Vorfälle machen Sorgen

Trotzdem macht sich SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner ernsthaft Sorgen – und zwar vor allem wegen Vorfällen, die gerade nicht in der Erhebung nach den klaren Kriterien der Internationalen Allianz zum Holocaust-Gedenken (IHRA) erscheinen. Transparente wie «Impfen macht frei» oder an der Brust angepinnte Sterne mit der Aufschrift «ungeimpft» beziehen sich auf die Nazi-Parole «Arbeit macht frei» und den Judenstern. «Diese Verharmlosung der Schoah ist ein grosses, grobes Problem», sagt Kreutner deutlich.

Kritisch daran seien mehrere Punkte. Nach den IHRA-Kriterien seien es keine antisemitischen Vorfälle, erklärt Jonathan Kreutner. «Das begünstigt allgemein das Gefühl: Das darf man ja sagen, das ist ja nicht schlimm.» Aber die Häufigkeit und Intensität solcher Vergleiche weise darauf hin, dass dieses Denken im Mainstream angekommen sei. «Das führt schliesslich doch zu einer Abschwächung der Wahrnehmung der damaligen Ereignisse, schafft einen Nährboden für Antisemitismus, und es fördert den Missbrauch für politische Anliegen», ist Kreutner überzeugt.

Möglichst direkt widersprechen

Der SIG und die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus rufen deshalb eindringlich auf, solche Vergleiche und die Instrumentalisierung der Schoah zu unterlassen. Ausserdem solle man ihnen immer – auch wenn man ihnen als Einzelperson begegne – möglichst direkt klar widersprechen. «Also auch wenn man beispielsweise an einer Demo wie in Wohlen einem Transparent oder Stern begegnet, sollte man sofort reagieren», sagt der SIG-Generalsekretär.

Bei den im Bericht registrierten Vorfällen gibt es zwei weitere wichtige Erkenntnisse. Die Schmierereien hätten zugenommen. Und es wird von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen, da die Erhebungen auf freiwilligen Meldungen basieren. Kreutner: «Wir beobachten ausserdem, dass die Schwelle für tätlichen Antisemitismus gesunken ist. Auf Worte können Taten folgen. Ein Fall wie in Biel macht mich sehr betroffen, das ist der gravierendste Angriff auf eine jüdische Institution in der Schweiz seit mindestens zehn Jahren.»

Pandemie als Hauptauslöser für antisemitische Äusserungen

Schliesslich zeigt der Bericht klar, dass die Coronapandemie zu einem Hauptauslöser für antisemitische Äusserungen vor allem online wurde. In diesem Bereich habe eine massive Verschiebung innerhalb der Kanäle zu Gruppenchats des Messengerdienstes Telegram stattgefunden. Allein 143 der 485 registrierten Vorfälle erfolgten auf Telegram. Allerdings erkennen die Berichtersteller «kein mehrheitsfähiges, antisemitisches Gedankengut bei den Corona-Rebellen».

Aber die Anziehungskraft für antisemitisch eingestellte Personen bei den Corona-«Rebellen» zeige, dass die Pandemie ein Potenzial für die Zunahme von Antisemitismus biete. Der SIG und die GRA stellen deshalb zwei Forderungen: von den Behörden, die Prävention und Strafverfolgung in diesem Bereich zu verstärken, und von Social Media-Plattformen, Verantwortung zu übernehmen und griffige Massnahmen zu treffen.

Hohe Dunkelziffer

«Die Masse an antisemitischen Vorfällen mit Bezug zu Corona ist schwerwiegend. Es ist äusserst selten, dass ein Thema so stark triggert», sagt Jonathan Kreutner. Und die Dunkelziffer, die Zahl nicht registrierter Fälle, gibt es auch, ist er überzeugt. «Wir haben zum möglichen Vergleich genau gleich viele Ressourcen eingesetzt in der Online-Beobachtung wie im Vorjahr. Würden wir zehn statt einen Mitarbeitenden beobachten lassen, würden wir auch viel mehr Fälle entdecken.»