Recherche 22. Dezember 2022, von Rita Gianelli

Ohne Erinnerung ist die Zukunft schwierig

Heimkinder

Seine Kindheit verbrachte Sergio Devecchi in Heimen in Zizers und Pura. Akten gibt es keine mehr darüber. Heute setzt er sich für den Erhalt der Erinnerungen von Betroffenen ein.

«Meine Identität zu finden, ist seit 60 Jahren mein Thema», sagt Sergio Devecchi, 76. Er ist in Heimen der Stiftung Gott hilft in Pura und Zizers aufgewachsen. Devecchi gehört zu den 32 Personen, die ihre Geschichte auf der Online-Plattform «Gesichter der Erinnerung» teilen. Damit soll das Erlebte der sogenannt fürsorgerisch Zwangsversorgten aus Sicht der Betroffenen festgehalten werden.

Keine Eltern

Devecchis Lebenslauf ist einer, wie ihn viele Zwangsversorgte haben: Bereits als Säugling kommt er ins Heim der Stiftung Gott hilft in Pura, wo er die ersten 14 Lebensjahre verbringt. Heimleiter und -leiterin muss er Vater und Mutter nennen. «Erst als ich den Kindergarten besuchte, habe ich realisiert, dass  auch ich leibliche Eltern habe.» Mit 14 verlegt man ihn ohne Erklärung nach Zizers, wo er die Sekundarschule besucht. Vor und nach der Schule muss er im Betrieb mithelfen. Es gibt harte Strafen für kleine Vergehen wie heimlich Radio hören im Stall. Die Ausbildung macht er als kaufmännischer Angestellter im Tessin, «weil die Heimleitung dort einen Verwandten von mir ausfindig machte». Der kümmert sich nicht um ihn. Devecchi vereinsamt. Dass er später Sozialarbeiter wurde und ein erfolgreiches Berufsleben führte, sei glücklichen Zufällen zu verdanken. «Eigentlich bin ich nie aus dem Heim ausgetreten», sagt er. Das Heim, so denkt er rückblickend, war wohl der einzige Ort, an dem er anknüpfen konnte. Von seiner Vergangenheit wusste niemand. Erst am letzten Arbeitstag, an einer von ihm organisierten Fachtagung, outet er sich und beginnt mit der Suche nach Familiendokumenten. Doch Akten existieren keine. Weder in Pura noch in Zizers. Für Devecchi ein Schock.

Neues Datenschutzgesetz

Tatsächlich haben viele Institutionen und Behörden in den 80er-Jahren Akten in grossem Umfang vernichtet. Auch die Stiftung Gott hilft in Zizers. Gemäss Archivarin Graziella Borelli, die eine Studie im Auftrag der Universität Bern durchführte, wurden Kinderdossiers und -verzeichnisse mit der Einführung des Datenschutzgesetzes in Graubünden nach Rücksprache mit dem Datenschützer und dem Staatsarchiv Graubünden vernichtet. Daniel Zindel, damaliger Gesamtleiter der Stiftung Gott hilft, setzte sich als Bündner Grossrat aktiv für die Einführung des kantonalen Datenschutzgesetzes ein. Dieses bewirkte, dass private Stiftungen Akten schon nach zehn Jahren vernichten durften. «Aus heutiger Sicht ein Fehler», sagt Zindel, «dafür entschuldige ich mich.» Man habe die Akten in Absprache mit dem kantonalen Datenschutzbeauftragten dann vernichtet, nachdem das Staatsarchiv kein Interesse gezeigt habe, diese aufzunehmen. Das ist heute anders. Das Staatsarchiv weist keine Akten ab und hilft sogar bei Nachforschungen. Auch Kanton und Stiftungen haben umfangreiche Aufarbeitung geleistet. «Gott hilft» hat ihre interne Aufbewahrungsregel auf 50 Jahre gesetzt.

Neues Lehrbuch

Mit der Online-Plattform will Devecchi solches sozialhistorisch relevantes Wissen «archivieren». Doch dieses müsse noch vertieft werden und gehöre in die Schulbücher, so Devecchi. Ein Lehrmittel existiert bereits. «Je mehr man weiss, desto besser kann man solche Geschichten verhindern.»

www.gesichter-der-erinnerung.ch