Recherche 09. November 2021, von Constanze Broelemann

«Sechs Minuten Freiheit»

Poetry Slam

Andreas Kessler war in Chur. In der Regulakirche brachte der Berner Theologe seine Kunst auf die Bühne. Im Interview erzählt er unter anderem, wie er zu seinen Texten kommt

Wie kamen Sie zum Slam?
Andreas Kessler: Ich kam zum Slammen wie die Jungfrau zum Kind. 2015 wurde ich für einen Preacher-
slam angefragt. Damals traten in der Berner Heiliggeistkirche drei Poetinnen und Poeten gegen drei Menschen aus der Kirche an. Tatsächlich gewann ich den Slam und stand immerhin im Final gegen den ehemaligen Schweizer Meister, Christoph Simon. Ich dachte zunächst: «Schön und gut, das war es jetzt.» Aber dann kamen Künstler auf mich zu und meinten, ich solle doch mal an einen «normalen» Slam kommen. In der Szene bin ich inzwischen mit meinen 54 Jahren die Ausnahme, denn die meisten Slammer sind jung.

Welche Themen haben Ihre Slams?
In meinen über hundert Texten werden viele Themen aufgegriffen. Aber Anlass des Schreibens sind meist persönliche Erfahrungen und Alltagsbegegnungen.

Und wie wird aus einer Alltagsbegegnung ein Text?  
Zum Beispiel wartete ich einmal auf den Bus. Dort kam eine Frau auf mich zu, die aussah, als käme sie aus dem Drogenmilieu. Sie fragte mich, ob ich ihr 20 Franken geben könne, sonst müsse sie auf den Strich. Ich stand dort, war wie paralysiert und wusste nicht, wie ich antworten soll­te. Daraus machte ich einen Text zum Thema Spontaneität: Wie können wir lernen, spontan zu sein?

Was genau macht einen Slam aus?
In sechs Minuten versucht man, eine Stimmung zu kreieren, in der
eine Message oder auch mal Nonsense rübergebracht wird. Die Performance ist sehr wichtig. Hier setzen die Slammer Rhythmus, Pausen, Lautstärke und Melodie. Da gibt es zum Beispiel auch Slamtexte, die inhaltlich dünn sind, aber überragend vorgetragen werden. Ich persönlich erzähle in meinen Slams meist kleine Geschichten, andere feuern Thesen ab, wieder andere reihen Witz an Witz.

Beim Preacherslam performen Sie zu religiösen Themen?
Ja, ich habe zum Beispiel einen Slam gemacht zu «Was passiert an einem Grillfest, wenn du dich als Theologe outest». Wie du dich zuerst erklären musst, dann aber alle mit dir reden wollen. Und wie sie dich dann schliesslich für all die Kreuzzüge und Hexenverbrennungen verantwortlich machen.

Slammen ist also eine Möglichkeit, Dinge mit Humor zu betrachten?
Einerseits ist es der Humor, andererseits auch die Freiheit. Ich sehe den Preacherslam oft als «sechs Minuten Freiheit». Durch die Form des Slams darf man anders reden, als man sonst in der Kirche redet. Es wird einem verziehen. Da darf man qua Format sagen: «Ich sitze allein mit Jesus in der Mansarde und das stinkt mir ein bisschen, weil Jesus stinkt.» In einem anderen Zusammenhang würden Menschen vielleicht behaupten, dass man das doch über Gott und Jesus nicht sagen dürfe. Für mich ist der Slam auf eine heilsame Art einseitig. Sonst ist man ja gerade in der Kirche  immer auf Ausgleich aus. Hier beim Slammen darf man mal bloss eine Seite sehen.
 
Apropos kirchliches Milieu: Beim Slammen gehts ums Gewinnen. Wie wird das in der Kirche wahrgenommen?
Ich habe hin und wieder gehört, dass manche Menschen mit dem Gewinnen in der Kirche Mühe haben. Es gehe ja nicht darum, wer bei dem Slam der Beste gewesen sei, und es sei doch auch so ein schöner Abend gewesen. Das stimmt schon. Wenn es beim konventionellen Slammen beispielsweise Richtung Schweizer Meisterschaften geht, ist die Atmosphäre schon kompetitiver. Für mich persönlich ist das ganze Slammen ein Spiel, und ich denke, so muss man es nehmen. Ich habe aber auch schon Menschen erlebt, die beleidigt waren, als sie dann bloss Zweite wurden.
 
Und Sie haben kein Problem mit der Bewertung seitens des Publikums?
Nein, das ist Teil des Geschäfts. Meistens ist das Publikum ja auch ganz freundlich und votiert nett. Aber
jeder Auftritt bleibt ein bisschen eine Lotterie, ob Slammer und Publikum zusammenpassen.