Recherche 04. Oktober 2021, von Constanze Broelemann

Erneuerung kommt von den Rändern

Gemeindeentwicklung

Die Pfarrpersonen werden weni-ger, das Geld wird knapper. Doch auf der kirchlichen Zukunftstagung in Chur macht ein Modell Hoffnung für die Zukunft der Gemeinden.

Thomas Bachofner, 56
Auf einem Bauernhof im Zürcher Oberland aufgewachsen, studierte Tho-mas Bachofner Theologie in Zürich und Los Angeles. Von 1994 bis 2010 war er Gemeindepfarrer in Gossau ZH mit Schwerpunkt Bildung und Spiritualität. Er ist Meditationsleiter und Leiter von Tecum, Zentrum für Spiritualität, Bildung und Gemeindebau der Evangelischen Landeskirche Thurgau in der Kartause Ittingen.

«Weg von der Pfarrperson im Zentrum, hin zu einem geteilten Gemeindedienst»
Thomas Bachofner Leiter Tecum, Zentrum für Spiritualität

Aus Neuseeland schwappt das Modell von Local Shared Ministry zu uns in die Schweiz. Was hat es damit auf sich?
Thomas Bachofner: Es geht bei Local Shared Ministry (LSM) um das «geteilte Pfarramt vor Ort». Das kann heissen, dass die Kirchgemeinde – bestehend aus Freiwilligen und aus Hauptamtlichen – gemeinsame Dienstgemeinschaft für die Menschen vor Ort ist. Wobei stets die Bedürfnisse der Menschen des Ortes im Fokus stehen. Die Idee ist, weniger zu zentralisieren und zu professionalisieren, sondern so weit wie möglich lokal zu bleiben.

In der hiesigen Kantonalkirche haben wir seit Kurzem die gemeinsame Gemeindeleitung festgeschrieben. Reicht das nicht?
Das ist sicher ein erster Schritt, wenn in Graubünden auch sogenannte Laien geistliche Verantwortung mittragen – indem sie über ihre rein administrativen Aufgaben, wie etwa Finanz- und Baukommissionen, hinaus auch geistliche Kompetenzen einbringen.

Sie sagten, die Idee von LSM kommtaus Neuseeland. Sind die Kirchenstrukturen dort ähnlich wie bei uns?
Nein, die Situation ist eine ganz andere. Die Neuseeländer ziehen keine Kirchensteuer ein und können sich daher an manchen Orten keine Pfarrpersonen mehr leisten. Das ist in der Schweiz schon noch anders. Wir können und wollen das Modell von LSM auch nicht eins zu eins bei uns umsetzen. Es gibt für uns auch rein strukturell einiges, was dagegenspräche. Dennoch: Wir haben auch in der Schweiz rückgehende Ressourcen. Es wird in den nächsten Jahren überall einen deutlichen Mangel an Pfarrpersonen geben. Als Haltung und als langfristige Strategie finde ich das Modell LSM sehr bedenkenswert.

Inwiefern?
Wenn zum Beispiel zukünftig, bedingt durch Gemeindefusionen, eine Pfarrperson allein vier bis fünf Gemeinden zu betreuen hat, dann kann sie ja gar nicht stets überall präsent sein. Wenn die Pfarrerin geht, nimmt sie also bis jetzt «die Kirche mit nach Hause». Hätte es aber vor Ort Freiwillige, die in den jeweiligen Gemeinden etwas Geistliches anbieten, könnte man auch ohne die Präsenz der Pfarrerin das Evangelium leben. Das wäre der «geteilte Dienst» («shared ministry»), von dem die Neuseeländer mit ihrem Modell sprechen.

Kann in diesem Modell denn jeder mitmachen und jede auf die Kanzel steigen, um zu predigen?
Die Idee ist schon, dass es eine Art «Ministry-Team», ein Gremium in der Gemeinde gibt, das dann entscheidet, wer geistliche Aufgaben übernimmt. Dem Gremium können aus der Gemeinde heraus Vorschläge von geeigneten Personen gemacht werden, die zum Dienst berufen, aber genauso gut auch wie­der abberufen werden können.Und was ist in diesem Modell die Rolle der Pfarrpersonen? Weg von der Pfarrerzentriertheit hin zu einer Gemeinde, die so auf mehreren Schultern getragen wird. Pfarrpersonen sind dann neu «en­abler», Ermöglicher. Sie betreuen die Freiwilligen und coachen sie auch hier und da in theologischen Fragen. In Neuseeland ist es tatsächlich so, dass die Pfarrerin einmal im Monat die Freiwilligengruppen trifft, mit ihnen redet und sie coacht. Bei uns wäre das vielleicht der «Wanderpfarrer», der alle zwei Wochen präsent ist und die Menschen vor Ort unterstützt.

Um die Idee von LSM zu beleben, braucht es Freiwillige. Woher nehmen wir die?
Wir brauchen unter uns ein Umdenken – nicht nur bei den Gemein­demitgliedern selbst, auch bei den Pfarrpersonen ist das nötig. Ich den­ke da an kleine Schritte. Dann gibt es zwei, drei Freiwillige, die zum Beispiel eine Andacht, ein Morgengebet nach dem Gesangbuch oder einen Sing- oder Lesekreis anbieten, auch unabhängig von der Pfarrperson.

Wer fängt an, Neues zu wagen?
Ich denke, dass die Kirchenerneu­erung von den Rändern kommt. Von Neuseeland, von Genf, auch von Grau­bünden, wo die bisherigen Systeme schneller an Grenzen stossen als woanders. Das ist auch eine gros­se Chance der Randregionen. Vielleicht gibt es hier Pilotgemeinden, die das LSM-Modell ausprobieren. Interview: Constanze Broelemann