Recherche 29. Dezember 2022, von Marius Schären

Eine Maschine macht auf Martin Luther

Technologie

Ein aktueller Text zum neuen Jahr, verfasst vom längst verstorbenen Martin Luther? Ein Team der Uni Bern hat für «reformiert.» zu diesem Zweck einen Textgenerator trainiert.

Testen Sie die Luther-Schreib-Maschine selbst

Das Team von «Digital Humanities» der Universität Bern hat für «reformiert.» eigens einen Textgenerator trainiert. Grundlage dafür waren öffentlich zugängliche Texte des Reformators Martin Luther. Der Generator ist für rund zehn Tage öffentlich zugänglich. Sie können ihn selbst ausprobieren und mit Eingaben von Textanfängen, Worten oder Sätzen die Maschine à la Luther schreiben lassen.

Klicken Sie dafür auf diesen Link, geben Sie im Feld rechts Text ein und klicken Sie auf «compute».

Als Anwendungsbeispiel haben Tobial Hodel und sein Team zuvor einen Textgenerator erarbeitet, der basierend auf Texten von Robert Walser neue Sätze in dessen Stil kreieren kann. An der Ausstellung «Aufgeschrieben» in der Nationalbibliothek in Bern lädt der Generator noch bis zum 13. Januar öffentlich zum Experimentieren ein.

Link zur Website der Ausstellung «Aufgeschrieben».

Einen Blick in die Kristallkugel wagen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler grundsätzlich nie. Doch Tobias Hodel sagt glasklar: «Der Umgang mit geschriebener Sprache wird sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten fundamental verändern.» Der Historiker und Literaturwissenschaftler ist Professor und Leiter des Bereichs «Digital Humanities» an der Uni Bern.

Und er ergänzt: «Wir werden nicht mehr von Grund auf selbst Texte verfassen, sondern im Dialog mit Textgeneratoren und anderen Formen künstlicher Intelligenz arbeiten.» Also weiterentwickeln, was heute bereits mit Übersetzungssoftware und Orthografieprogrammen gang und gäbe ist.

Der geniale Autor, wie wir ihn etwa mit Goethe in Verbindung bringen, ist damit definitiv vom Tisch.
Tobias Hodel, Professor und Leiter von «Digital Humanities» an der Universität Bern

Beispiele für solche Anwendungen sind Textgeneratoren wie der mit Robert-Walser-Material trainierte für die Ausstellung in der Nationalbibliothek (vgl. Infobox oben) oder eben die Luther-Maschine für «reformiert.» Bei solchem «maschinellen Lernen» handle es sich um einen Versuch, Muster in sprachlichen Daten zu erkennen, sagt Hodel. Gefüttert mit möglichst vielen Originaltexten, lerne das System, welche Folgen von Wörtern «sinnvoll» sind.

Wer schreibt denn nun?

Aber: Ist das Resultat nun tatsächlich ein Text von Walser? Oder eher von den Programmierenden? Für Tobias Hodel ist das eine «interessante Frage». Sie lasse sich, findet er, nur auf unterschiedlichen Ebenen beantworten. Rechtlich stehe wohl die Autorin, der Autor oder der Verlag dahinter, technisch das For­schungs­team oder gar der Algorithmus selbst. Sicher aber sei: «Der geniale Autor, wie wir ihn etwa mit Goethe in Verbindung bringen, ist damit definitiv vom Tisch.»

Für den von der «reformiert.»-Redaktion Bern bestellten Neujahrstext von «Martin Luther» (unten) hat Hodels Team ein Modell für maschinelles Lernen eingesetzt, das schon viele deutsche Texte verarbeitet hat. Es wurde mit Texten von Luther (1483–1546) «trainiert». Hodel: «Luthers Sprache ist Deutsch, funktioniert historisch bedingt jedoch anders als heutiges Deutsch, deshalb ist das Resultat noch experimentell und überzeugt nicht rundum.» Spannend sei dies, weil mit Textgeneratoren etwa die Literaturwissenschaft oder die Philosophie durch andere Zugangsformen auch herausgefordert werden könnten.

Und wer stiftet Sinn?

Dass dies auch für die Theologie gilt, bestätigt Katharina Heyden, Theologieprofessorin an der Uni Bern. Sie erlebe derzeit eine Wiederentdeckung der Mündlichkeit, etwa mit den häufig verwendeten Sprachnachrichten statt Textnachrichten. Und weiter: «Für die kommenden Jahre erwarte ich eine fundamental neue Zuordnung von mündlicher und schriftlicher Sprache. Das ist theologisch hoch spannend.

Die künstliche Intelligenz von Maschinen kann der kritischen Intelligenz von Menschen sinnvolle Dienste erweisen.
Katharina Heyden, Theologieprofessorin an der Universität Bern

Schliesslich existiere von Moses oder Jesus auch kein geschriebenes Wort, und doch nenne sich das Christentum «Schriftreligion». Den «kritisch-spielerischen Dialog» mit maschinell generiertem Text empfinde sie zwar für ihr eigenes Schreiben als sehr interessant und produktiv, «aber Theologie lebt von kritischer Kreativität», hält Katharina Heyden entschieden fest.

So lautet denn nach aktuellem Stand ihr Fazit: «Die künstliche Intelligenz von Maschinen kann der kritischen Intelligenz von Menschen sinnvolle Dienste erweisen. Aber Sinn erschliessen oder stiften, das müssen die Menschen derzeit noch selbst.»

 

Texte zum neuen Jahr

Nun aber Bühne frei: Das Wort haben die Martin-Luther-Textgenerator-Maschine und die Mitglieder der «reformiert.»-Redaktion in Bern:

Textgenerator alias Martin Luther: Darum lass dich nicht erschrecken

Wünsche zum neuen Jahr, so sollen wir nicht allein mit dem Herzen, sondern auch mit der Vernunft den­ken. Das ist das erste Stück, dass wir lernen sollen, wie wir Gott dienen. Denn da ist kein Mangel, kein Hunger, keine Krankheit, nichts, was wir leiden müssten, wenn wir es nur wollten. Das ist die Lehre aus dem heutigen Evange­lium und die uns unser lieber Herr Christus vorhält.

Das ist das erste, heilige Werk. Aber das andere, wo wir Gott nicht dienen und uns nicht in das Evangelium trauen, da ist ein grosses, schreckliches Werk; denn es ist eine grosse, schreckliche Sün­de, weil wir das Gesetz nicht halten. Al­so, ob man gleich Gott gefallen will, muss man sich des Wortes Got­tes annehmen, welches er uns gegeben hat, danach handeln; und Gott dienen. Darum, spricht Christus, lass dich nicht erschrecken, du bist nicht verloren, denn du hast Gott gedient.

Quelle:
https://huggingface.co/dh-unibe/gpt2-larger-luther

Mirjam Messerli: ​Ein Paar Socken als Zeichen der Hoffnung

Ich habe dieses Jahr ein Paar selbst gestrickte Socken geschenkt bekommen. Sie sind orange und unförmig. Ich trage sie nachts, sie wärmen meine Füsse und meine Seele. Gestrickt hat sie eine ältere Ukrainerin, der ich in einem Treffpunkt für Geflüchtete be­gegnet bin. Geschenkt hat sie mir die Socken, weil ich ihr einen gebrauchten Rollkoffer organisierte, damit sie ihre Habseligkeiten nicht mehr in einer Plastiktasche mit sich tragen musste.

Diesen Moment, als sie mir die Socken überreichte und eine Hand auf ihr Herz legte, will ich ins neue Jahr mittragen. Ich weiss nicht, wo die Frau jetzt lebt, wie es ihr geht. Jeden Abend, wenn ich ihre Bett­socken anziehe, denke ich an sie. Ich wünsche ihr, dass sie im kom­menden Jahr in ihre Heimat zurückkehren kann. Ich wünsche ihr und ihrem Land Frieden. Ihre Socken erinnern mich daran, dankbar zu sein und zu helfen, wo ich helfen kann.

Hans Herrmann: ​Augenblicke der Transzendenz erfahren

Vor zwei, drei Jahren rief mich einmal eine Leserin aus dem Em­mental an. Sie sei einsam und krank, sagte sie. Neulich habe sie aber in einer schlaflosen Nacht die Gegenwart Gottes gespürt, gross, unmittelbar und tröstlich. Es sei ein wunderbares Gefühl gewesen, sie habe sich aufgehoben gefühlt wie selten zuvor in ihrem Leben. «Ich wünsche Ihnen und allen Menschen, dass sie in einer Notlage auch einmal eine solche Erfahrung machen dürfen. Das wollte ich nur sagen.» Mit diesen Worten verabschiedete sie sich.

Die Frau berichtete von einer Gotteserfahrung, die man als mystisch bezeichnen kann: Das Unaussprechliche offenbarte sich ihr in einem intensiven Augenblick und erfüllte die Gegenwart mit dem, was Gläubige als Gott bezeichnen. Den Wunsch der Frau, dass viele Menschen solche erfüllenden Momente der Transzendenz erleben dürfen, gebe ich zum neuen Jahr hier gerne weiter.

Katharina Kilchenmann: Regen Sie sich ruhig auf, es lohnt sich

Wir sollten endlich aufhören, uns weniger aufzuregen. Aufhören, jedem Entspannungsguru zu glauben, wenn er behauptet, nur wer mit lockeren Schultern und mildem Lächeln seine Tage verbringt, sei auf dem richtigen Weg. So ist es nämlich nicht.

Natürlich ist es reine Zeitverschwendung, sich über die Nachbarin zu ärgern, die den Abfallsack zu früh vors Haus stellt, oder über fehlende Kaffeekapseln in der Büroküche. Aber es gibt ein paar Themen, über die wir uns sehr wohl aufregen sollten. Über die Klimakrise etwa, den Hunger in der Welt, die Kriege. Diese Themen haben unsere Aufregung mehr als nur verdient. Nehmen wir uns also gar nicht erst vor, tie­fenentspannt durchs nächste Jahr zu kommen. Kanalisieren wir stattdessen unser Aufgeregtsein und verwandeln es in Engagement. Leute, die sagen, was es zu sagen und zu tun gibt, braucht diese Welt.

Marius Schären: Erst mal Tee trinken – und dann was tun

Bisher habe ich mir nie Vorsätze vorgenommen fürs neue Jahr. Ich dachte mir, ich würde sie ohnehin nicht umsetzen, erfüllen oder einhalten. Doch näher betrachtet: Es könnte sein, dass ich mich irre. Vielleicht nicht im Endresultat, aber sicher darin, dass Vorsätze nichts bringen, weil sie eh nicht umgesetzt werden. Denn nur schon, sich zu überlegen, was einem wichtig ist, hat schliesslich einen Effekt. Sich etwas vorzunehmen oder zu wünschen, ist grundsätzlich eine Basis für Taten.

Nun trinke ich sehr gern Kaffee. Und entsprechend viel. Doch hat er Auswirkungen, die nicht nur positiv sind. Mir und der Umwelt täte es gut, wenn ich auf Tee wechselte. Ich bin überzeugt: Mir die Zeit nehmen, mich hinsetzen, Tee trinken und nachdenken, das wirkt. So können Ideen entstehen, die zwar nicht Wunder wirken. Aber mich leiten, Gutes zu tun, und sei es im Kleinsten. Das wünsche ich allen.