Recherche 29. Januar 2021, von Katharina Kilchenmann

Spitalpersonal im Dauerstress

Medizin

Einst wurde ihnen applaudiert. Jetzt arbeiten die Pflegenden in den Spitälern am Limit, und kaum jemand nimmt Notiz davon. Wie gehen sie mit der chronischen Überlastung um?

Genau vor einem Jahr, auf einer Reise durch den australischen Sommer, hörte Marina Wüthrich zum ersten Mal vom neuen Coronavirus. Verwundert sah sie sich die Bilder aus China an. «Das kam mir damals absolut surreal vor», sagt die Diplomierte Expertin Intensivpflege. «Und jetzt haben wir hier den zweiten Lockdown, und auf der Station so viele schwerstkranke Covidpatienten. Im Frühjar 2020 war das noch unvorstellbar.»

Personal am Limit

Die 29-jährige Bernerin hat in ihrer Zeit auf der Intensivstation des Inselspitals schon einiges erlebt. Doch seit dem Anstieg der Corona-Fälle im letzten Herbst kommt sie manchmal an ihre Grenzen. «Die Patientinnen auf unserer Abteilung werden oft derart schwach, dass der Pflegeaufwand enorm zunimmt», erklärt Wüth­rich. Die Fälle seien komplex, und für die Betreuung brauche es viel gut geschultes Personal mit spezifischem Fachwissen. «Der Zustand von Schwerstkranken kann sich innerhalb sehr kurzer Zeit rasant verschlechtern. Dann muss man sehr schnell handeln.» Ein Lungenversagen bei einem Covid-Patienten geht oft einher mit einem Multiorganversagen und kann lebensbedrohlich werden. «Dann ist beinah das ganze Team am Rennen, und wir machen alles Erdenkliche, um die Person zu retten.»

Natürlich gehöre auch in Zeiten ohne Corona der Kampf ums Überleben zum Alltag auf einer Intensivstation. Jetzt aber gebe es mehr Schwerstkranke und mehr Todesfälle. «Das ist belastend und frustrierend», sagt Marina Wüthrich leise. Und gewisse Bilder gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf: eine Mutter etwa, die ihrer sterbenden Tochter noch einen letzten Kuss geben wollte, sich aber nicht traute, dafür die Schutzmaske auszuziehen. «Die Frau hat so geweint. Und ich musste sie richtiggehend überzeugen, dass sie dafür die Maske kurz abnehmen dürfe. Es war sehr traurig.»

Angespannte Lage

Noch ist die Lage am Berner Inselspital unter Kontrolle. Die Betten sind stark ausgelastet, aber die Normalversorgung – auch die von Nicht-
Covid-Patienten – ist gewährleistet. Aber die Situation sei sehr angespannt, berichtet Karin Ritschard, Leiterin Kernbereiche Pflege am Inselspital. Wenn etwa das mutierte Virus plötzlich zu vielen zusätzlichen Hospitalisierungen führe, dann hätten sie kaum Reserven. «Nicht die Betten oder die Geräte sind das Problem, sondern das Personal.» Je nachdem, wie die Pflegenden selbst von der Krankheit oder von Quarantäne betroffen seien, könnte es sehr schnell eng werden, gibt Ritschard zu bedenken.

Der Zustand von Schwerstkranken kann sich innert kürzester Zeit rasant verschlechtern.
Marina Wüthrich, Diplomierte Expertin Intensivpflege

Für den ganzen Betrieb eines Spitals sei die aktuelle Situation höchst anspruchsvoll. Wenn es wie jetzt viele Schwerkranke gebe, würden diese so rasch wie möglich von der Intensiv- zurück auf die Normalabteilung verlegt. «Doch auch dort ist ihre Betreuung komplexer und zeitaufwändiger.» Und Karin Ritschard fährt fort: Pflegende, aber auch Mitarbeitende in der Küche, Putzkräfte, die Postboten oder Logistiker, die den hohen Materialverbrauch gewährleisten, arbeiteten seit Wochen unter grossen Zusatzbelastungen. «Auf Dauer wird das schwer zu bewältigen sein.»

Corona ist eine ernste Krankheit

Marina Wüthrich ist froh, dass sie vor der Pandemie noch die Auszeit in Australien geniessen konnte. «Seither hat das Virus den Arbeitsalltag deutlich verändert. Bis hin zu den Mittagessen mit den Kolleginnen in der Kantine, die nicht mehr stattfinden können.» Die Ungewissheit, wie lange die Pandemie noch dauere, und die stets wachsenden Anforderungen auf der Station machen ihr zu schaffen. «Wenn wir in normalen Zeiten pro Dienst für ein oder zwei Patienten zuständig sind, tragen wir jetzt für drei bis vier Leute die Verantwortung.» Das mache einen grossen Unterschied, trotz der Unterstützung von Fachleuten aus anderen Abteilungen. Es handle sich um eine ernste Krankheit, betont Marina Wüthrich. «Wer immer noch glaubt, Covid-19 sei nicht viel mehr als eine normale Grippe, kann gerne einmal bei uns vorbeischauen.»