Recherche 26. Mai 2020, von Constanze Broelemann

«Das memento mori ernst nehmen»

Theologie

Die Pandemie hat uns wie lange etwas nicht mit unserer Endlichkeit konfrontiert.

Andrea Bieler, 57

Seit 2017 ist Andrea Bieler Professorin für Praktische Theologie an der Uni­versität Basel mit den Schwerpunkten Interkulturelle Praxis, Verletzlich-
keit, Konvivialität, Seelsorge. Die gebürtige Deutsche studierte in Marburg, Ams­terdam und Hamburg. Nach dem Vikariat war sie unter anderem
als Pro­fessorin in Berkley (USA) tätig.

Ein Gott zum Heulen, Wieviel Gefühl
verträgt der Glaube? Perspektiven, SRF 2,
So, 28. Juni, 8.30 Uhr.

Sie sagen, Verletzlichkeit ist ein Grundzug menschlichen Lebens. Können Sie das erklären?

Andrea Bieler: Alle Menschen, egalin welchem Kontext sie leben, sind verletzlich. Die Verletzlichkeit lässt sich am Körper und an psychischen Phänomenen festmachen. Die Liebe macht uns zum Beispiel verletzbar. Darüberhinaus können soziale Marker Einfluss haben auf unsere Verletzlichkeit. Beispielsweise sind Frauen vulnerabler für häusliche Gewalt als Männer oder manche Ausländer sind vermehrt rassistischer Gewalt ausgesetzt.

Mit der Corona-Pandemie erleben wir als Gesellschaft eine kollektive Verletzlichkeit. Was fällt Ihnen in dieser Zeit auf?

Eine Studentin von mir formulierte es so: «Zum ersten Mal erlebe ich, dass die Entscheidungen des Bundesrates direkten Einfluss auf mein Leben haben.» Das ist so, denn ein Staat im Ausnahmezustand hat direkten Einfluss auf unsere Körper: durch die Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die Trennung in In­fizierte und Nicht-Infizierte. Hier müssen wir aber sorgsam bleiben.

Im Kanton Uri gab es kurzfristig ein Ausgangsverbot für Über-65-Jährige. Wie bewerten Sie das?

Aus rechtlichen Gründen wurde dieser Vorstoss ja schnell vom Tisch geschafft. Aber ich halte das auch ethisch für ein Problem. Es muss doch der Massstab der Gleichbehandlung gelten. Eine Altersgruppe derart einzuschränken, ist für mich ein irrationaler Versuch, die Kontrolle über die Situation wieder zu erlangen.

Haben wir verlernt, mit Kontrollverlust umzugehen?
Wir befinden uns in einer Extremsituation. Es gibt kaum Vergleichsmöglichkeiten und Unsicherheiten sind daher nachvollziehbar. Dennoch sollten wir über Muster nachdenken, die uns leiten. Zum Beispiel, wenn wir sagen, wir holen während der Pandemie keine Kinder und Jugendlichen aus Flüchtlingsunterkünften, dafür aber Schweizer Touristen aus Marokko. Das ist für mich nicht logisch.  

Verletzbarkeit ist nicht auf den ersten Blick eine Stärke. Wie kann sie zu einer werden?

Es ist gut, Unverwundbarkeitsmythen fahren zu lassen. Ebenso aufzuhören, unsere Endlichkeit zu verdrängen. Kürzlich sagte mir ein befreundeter Notfallmediziner aus Chicago, «wir müssen uns daran erinnern, dass wir sterblich sind. Es gibt kein Recht darauf, 95 Jahre alt zu werden». Dieses memento mori müssen wir zulassen können. Sonst laufen wir Gefahr, in «Bunker-Mentalitäten» abzurutschen. Dass wir unser eigenes Leben aus Angst so eng schnüren, dass es krank macht.

Verzicht und Respekt werden von uns gefordert. Gibt es in der christlichen Tradition Vorstellungen, warum wir das leben sollten?

Bei Paulus gibt es ja die Vorstellung vom Leib Christi. Ein Bild von radikaler Interpendenz, spirituell und materiell. Im Korintherbrief reflektiert er, welchen Effekt Handlungen, die ich tue, auf andere haben. Für Christinnen und Christen sollte das «wer bin ich» immer in ­einer Art Netzwerkdenken stattfinden. Meine Freiheit ist immer bezogen auf die Freiheit des anderen.

Wie kann uns ein Bild vom verletzlichen Gott in dieser Zeit helfen?

Das Bild von Christus, der nicht in Distanz, sondern mitten im Leiden wirksam ist, war schon immer Menschen eine starke Hilfe. Jesus besitzt in den Heilungsgeschichten der Bibel eine transformierende Empathie. Immer ist es so, dass das verletzte Leben von Christus angesprochen und verwandelt wird.

Was hoffen Sie, dass wir aus dieser Ausnahmezeit mitnehmen können?

Ich bin beeindruckt, wie gross sich politische Gestaltungsräume unter dem Druck der Pandemie plötzlich entwickeln konnten. Was könnten wir schaffen, wenn wir diese Gestaltungsfähigkeit auf Probleme wie den Klimawandel anwenden würden? Darüberhinaus hoffe ich, dass wir uns immer wieder an den Moment der Verlangsamung des Lebens erinnern können. Dieser Glücksmoment, der in der ganzen Zeit auch da war. Auf einmal musste man nicht mehr so viel tun und es entstanden Freiräume mit der Verlangsamung des Lebens. Auch wenn sie schnell wieder zugeschüttet wurden. Und ich hoffe, dass wir uns wieder stärker der Offenheit unserer Zukunft bewusst werden. Wir sollten das memento mori wirklich ernst nehmen. Was heisst Vertrauen, wenn ich keine Versicherung habe. Diese Herausforderung liegt immer vor uns. In diesen Zeiten aber besonders.