Recherche 23. Februar 2022, von Anouk Holthuizen

Und was will eigentlich ich?

Psychologie

Die eigenen Bedürfnisse total vernachlässigen: Dominique Deubelbeiss, Leiterin Pflege und Therapie im Zentrum Lindenfeld Suhr, begegnet oft Menschen in diesem Ungleichgewicht.

Sie arbeiten in einem Pflegezentrum. Dort helfen viele Menschen anderen Menschen. Sie aber beschäftigen sich auch mit der Fürsorge für sich selbst. Weshalb?  
Dominique Deubelbeiss: Um für andere da sein zu können, muss man gut für sich selbst sorgen. In Gesprächen mit dem Personal und mit Angehörigen spreche ich das Thema immer an. Viele beherrschen diese Kunst nur schlecht oder gar nicht.  

Bei Angehörigen kann ich mir das gut vorstellen, aber bei Pflegenden?  
Menschen im Gesundheitssektor wollen helfen. Sie können sich gut zurücknehmen und anderen viel geben, und in der Wertschätzung der Patienten finden sie Erfüllung. Das ist so weit gut. Manche beziehen ihren Selbstwert aber ausschliesslich aus der Reaktion des Gegenübers, jene mit dem sogenannten Helfersyndrom. Sie übersehen eigene Bedürfnisse und drohen auszubrennen. Man muss unbedingt auf einer professionellen Ebene helfen wollen, dem Gegenüber auf Augenhöhe begegnen und die Energie auch aus anderen Quellen beziehen.  

Angehörige dürften die eigenen Bedürfnisse eher aus einem schlechten Gewissen heraus vernachlässigen.  
Auch wegen unausgesprochener Erwartungen. Sie fühlen sich verpflichtet, jederzeit für ihren Partner oder Elternteil da zu sein. Auch wenn dieser ins Pflegezentrum gezogen ist, kommen viele jeden Tag, obwohl sie total erschöpft sind. Dabei kümmern wir uns ja rund um die Uhr um die Bewohner. Beim Standortgespräch rund sechs Wochen nach dem Eintritt fragen wir die Angehörigen und den Bewohner, wie es ihnen gehe. Wenn der Bewohner dann sagt: «Meine Tochter kommt nie!», fragen wir, was seine Erwartung sei und ob die Tochter das überhaupt leisten könne. Dinge offen zu besprechen, gehört zu einer guten Selbstfürsorge.     

Für sich selbst gut zu sorgen, ist generell für viele schwierig. Warum? 
Viele Menschen wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen, wenn sie mal Zeit haben. Sie fühlen sich wertlos, wenn sie nicht gebraucht werden. Wir definieren uns stark über Leistung.  

Wie kann ich herausfinden, was ich brauche, um mich wohlzufühlen? Man muss zunächst mal in sich hineinhorchen und fragen: Was stresst mich? Warum kann ich meine freie Zeit nicht geniessen? Was würde mir guttun? Selbstreflexion ist elementar. Doch statt sich zu hinterfragen, füllen viele ihre freie Zeit mit noch mehr Arbeit und putzen eher das Haus, statt auf dem Sofa ein Buch zu lesen.  

Viele nehmen sich etwas vor, setzen es aber nicht um.  
Ich mache schon lange keine Vorsätze mehr, denn damit setze ich mich nur unter Druck. Es ist viel besser, wenn ich Tag für Tag schaue: Was brauche ich gerade jetzt? Ich gehe zurzeit zum Beispiel einmal pro Woche ins Yoga, um zu schauen, ob mir das guttut und überhaupt in meinen Alltag passt. Tut es das nicht, höre ich eben wieder damit auf. Ausgleich kann aber auch sehr spontan stattfinden: Wenn mir der Einkauf gerade zu viel ist, setze ich mich vielleicht erst mal hin und trinke einen Kaffee.  

Sie geniessen den Ruf, sich selbst gut zu schauen. Warum gelingt Ihnen, was anderen schwerfällt? 
Positives Denken wurde mir sicher in die Wiege gelegt, aber ich schaue auch immer, dass ich irgendwo eine Steckdose zum Energieaufladen habe. Ich habe einen grossen Garten, denn ich liebe es, mit Erde und Pflanzen zu arbeiten. Zudem sind mein Mann und ich immer in ein gemeinsames Projekt involviert, zum Beispiel mit dem Bau mehrerer Hochbeete. Ich tanke also Kraft in einer Aktivität, die nichts mit meiner Arbeit zu tun hat. Was auch wichtig ist: Ich hole mir stets professionelle Hilfe, wenn ich mal nicht weiterweiss im Leben.  

Der Markt für Yoga und Achtsamkeitskurse ist enorm gewachsen. Ist das Ausdruck einer besseren Selbstfürsorge oder einer gestressteren Gesellschaft? 
Wohl beides. Das Bewusstsein für Selbstfürsorge ist sicher gewachsen, das sehe ich bei den Mitarbeitenden. Die junge Generation schaut besser zu sich. Sie betrachtet Geld und Freizeit als wichtigen Teil von Arbeit, während meine Generation der Babyboomer vor allem arbeitet, um zu arbeiten. Die Jungen zeigen eine andere Lebens- und Arbeitseinstellung.  

Vielleicht ist das die Folge davon, dass man sich selbst mehr schaut? 
Ja. Aber ist das gut oder schlecht? Es ist einfach eine andere Zeit. Immer mehr Männer möchten mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen. Das finde ich schön. Die Lebensmuster sind vielfältiger geworden.  

Sie sind 58. Fanden Sie die Balance immer gleich gut? 
Über die Jahre gelang mir das immer besser. Mit 20 orientiert man sich mehr an Konventionen. Mit zunehmendem Alter spürt man besser, was wichtig für einen ist. Deshalb sage ich stets mit einem Zwinkern, dass das der Grund für graue Haare sei: Es gibt nicht nur Schwarz und Weiss, sondern viele Grauabstufungen, die ein Spiegel von Erfahrungen, Wissen, Vertrauen usw. sind. 

Dominique Deubelbeiss, 58

Dominique Deubelbeiss, 58

Die Schinznacherin arbeitet, seit sie 16 Jahre alt ist, Vollzeit in der Pflege und ist Mitglied der Geschäftsleitung des Pflegezentrums Lindenfeld. Auf Initiative der reformierten Seelsorgerin Katharina Zimmermann sollte sie vor der Kirchgemeinde Buchs-Rohr einen Vortrag zur Selbstfürsorge halten. Dieser fand wegen der Pandemie noch nicht statt.