Recherche 27. Mai 2020, von Nicola Mohler

Waldenser spenden und haben selbst zu wenig

Pandemie

Die Lombardei war wie keine andere Region Italiens von Corona betroffen. Zwei Waldenserpfarrer erzählen über die Situation in Bergamo und in Brescia.

«Der Schrecken der letzten Monate steckt uns noch tief in den Gliedern», sagt Winfrid Pfannkuche. Der Pfarrer der Waldenserkirche in Bergamo beobachtet, dass die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt nur zögerlich wieder aus dem Haus gehen. Zu gross sei die Angst vor einer neuen Ansteckungswelle. Jeder hat Verwandte oder kennt jemanden, der an Corona erkrankte.

Ältere Menschen im Gang abgestellt

Mit mehr als 83 000 Infizierten und über 15 000 Toten war die Lombardei von allen Regionen in Italien am stärksten betroffen. Die Provinz Bergamo konnte ab Mitte März die Toten nicht mehr selbst kremieren. Militär-Konvois brachten die Särge in andere Regionen. Allein im Altersheim der protestantischen Gemeinde der Waldenser in Bergamo starben 22 von 60 Bewohnern. Immerhin konnte der Heimarzt die Sterbenden dort palliativ begleiten.

«Vielerorts wurden die alten Menschen alleine gelassen», berichtet Pfannkuche. Es fehlte an Personal und Schmerzmitteln. «In den Spitälern wurden die alten Menschen einfach in den Gängen abgestellt, während die jüngeren Corona-Patienten ein Bett auf der Intensivstation erhielten.» Das Schwierigste für Pfannkuche in diesen Monaten war, die Kranken nicht besuchen zu dürfen. «Wir mussten nun lernen, dass Nächstenliebe bedeutet, auf Distanz zu bleiben.» Wenn möglich betete Pfannkuche mit Sterbenden am Telefon. Intensiver als sonst sei die Seelsorge mit trauernden Angehörigen gewesen. «Statt der drei Besuche in normalen Zeiten telefonierte ich mit ihnen täglich.»

Geld für die Löhne fehlt

Die Waldenserkirche ist in Italien für ihr soziales Engagement bekannt. Sie betreibt Altersheime, Schulen und Begegnungszentren und engagiert sich stark für Flüchtlinge. Ihr Gemeindeleben und die Löhne ihrer Angestellten finanziert die Kirche mit Kollekten und Mitgliederbeiträgen. Durch die
Corona-Krise erwartet das Leitungsgremium finanzielle Einbussen und ist selbst auf Zuwendungen angewiesen. Das Waldenserkomitee der deutschen Schweiz ruft zur Spende auf.

www.waldenser.ch

Um die Menschen und das Gesundheitssystem zu unterstützen, hat die Waldenserkirche rund acht Millionen Franken gespendet. Die Mittel stammen aus der staatlichen Kultur- und Religionssteuer. Der Steuerzahler bestimmt, ob er acht Promille seines Einkommens dem Staat oder einer Religionsgemeinschaft abgibt. Jedes Jahr kreuzen 400 000 Italienerinnen und Italiener auf ihrer Steuererklärung die Waldenserkirche als Empfängerin an. Sie selbst zählt in Italien nur 22 000 Mitglieder. So erhält die anerkannte reformierte Kirche jährlich rund 30 Millionen Franken, die sie für soziale Projekte, nicht aber für Pfarrlöhne ausgeben darf.

Ein Teil des Nothilfepakets fliesst in das Gesundheitswesen. In Brescia zum Beispiel kaufte die Waldenserkirche einen Lungen-Computertomographen im Wert von einer halben Million Franken für das Spital. Der Rest der Spende wird auf Gemeindeebene eingesetzt.

Zurück zu den Wurzeln

So verteilte die Pfarrerin Anne Zell in Brescia sozial schwachen Familien Lebensmittel. Sie hatte befürchtet, «die Betroffenen fühlten sich beschämt». Stattdessen seien die Leute dankbar und auf die Hilfe angewiesen.

Anne Zell leitet in Brescia ­eine multikulturell geprägte Gemeinde. Viele der 150 Mitglieder kommen aus methodistischen Kirchen und pflegen einen evangelikalen Frömmigkeitsstil. «Essere chiesa insieme», lautet das Motto: gemeinsam Kirche sein. Gottesdienste mit Tanz und den speziellen Spenderitualen sind für die Waldenser Normalität.

Doch jetzt wird die Corona-Krise für die Gemeinschaft zur Belastungsprobe. «Viele Mitglieder suchen in ihren Wurzeln Halt», sagt Zell. Dies führe je nach theologischer Auslegung zu Spannungen. Zell nennt als Beispiel, dass im Gemeinde-Chat die Aussage kursiere, das Virus sei eine Strafe Gottes. Da musste sie eingreifen. «Die interkulturelle Gemeinde ist sehr fragil, da braucht es den persönlichen Kontakt», sagt die Pfarrerin. Sie hofft, dass sich die Mitglieder auch nach der Krise der gemeinsamen Kirche verbunden fühlen.