Recherche 06. Januar 2021, von Constanze Broelemann

Junger Theologe fordert klare Haltung der Kirchen

Corona-Tote

Gemeinsam mit anderen Theologen hat der in Untervaz lebende Jan Bergauer eine Erklärung zur Würde des menschlichen Lebens veröffentlicht. Er erwartet mehr von den Kirchen.

Wenn wir uns als Kirche schon die Nächstenliebe auf die Fahnen schreiben, warum gibt es dann keinen Aufschrei», fragte sich Jan Bergauer. Der 33-jährige katholische Theologie Student will Menschen, die in der Schweiz an Covid-19 sterben, mehr gewürdigt wissen. «Lange Zeit wurden alle Verstorbenen bloss als Zahlen in irgendeiner Zeitungs-Statistik geführt und bekamen ansonsten weder medial noch politisch eine angemessene Resonanz.»

Parteinahme für die Schwachen
So sah das auch der ­reformierte Pfarrer Michael Wiesmann aus Zürich. Mit ihm hatte sich Jan Ber­gauer bereits bei der sogenannten ersten Welle ausgetauscht. Beide wollten die Corona-Toten nicht «unkommentiert stehen lassen», sagt Wiesmann. Als dann noch Bundesrat Ueli Maurer, gefragt nach dem «Schweizer Weg», sagte: «Wir sind bewusst dieses Risiko einge­gan­gen, weil wir eine Güterabwägung gemacht haben», sahen die beiden Theo­logen Handlungsbedarf. Sie setzen eine Erklärung unter dem Titel: «Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst» auf. In Anlehnung an Psalm 8 wollten die Theologen das menschliche Leben mehr gewürdigt wissen.«Im Sinne der Parteinahme für die Geringsten und Schwachen», wie es in der Erklärung heisst, rufen die Initianten Presse und Politik auf, «sich die Würde des Menschen auf die Fahnen zu schreiben».

Werte verbalisiert
Darüberhinaus wollen Wiesmann, Bergauer und Martin Peier, der als Pfarrer und Geschäftsführer des reformierten Stadtverbands Zürich der dritte Initiant ist, medizinisches Personal in seinem Aufruf unterstützen. «Wir haben unsere Werte verbalisiert», sagt Wiesmann. Der Pfarrer hat die Erklärung auf die Webseite «rootedinlove» gestellt. Auf ihr ist die Erklärung einsehbar. Sowieso sei die ganze Aktion online ersonnen worden, sagt Bergauer. Social Media seien eben zu Corona-Zeiten die bevorzugte Wahl, sehr viele Menschen anzusprechen. Unter dem Hashtag #LichtInDerTrauer will er darüberhinaus hundert Orte in der Schweiz finden, die am Silvesterabend um 17 Uhr fünfzig Kerzen für die Opfer der Pandemie entzünden. Die Fotos der brennenden Kerzen sollen in den sozialen Medien geteilt werden.
Bergauer hat seine Aktion in den verschiedenen Landeskirchen und Bistümern der Schweiz bekannt gemacht. «Oft bekam ich keine Antwort». Der Kirchenrat der Landeskirche in Graubünden antwortete zwar, aber lehnt die Aktion ab, weil «eine zu kleine Gruppe in Blick genommen werde». Ausserdem werde zu wenig beachtet, wieviel in den ört­lichen Gemeinden bereits jetzt schon zum Gedenken an die Covid-
Toten geschieht, heisst es aus dem Bündner Kirchenrat.
Nun sind es laut dem Eintrag auf Facebook der Aktion  «Licht in der Trauer» schweizweit 23 Pfarreien  und Kirchgemeinden, die Kerzen entzünden. Viel weniger als erhofft und viel weniger breit abgestützt als von Bergauer gewollt.
Die Rolle der Kirchen war den Initianten der Erklärung definitiv zu klein und bleibt es wohl auch. Zwar habe es das Papier der reformierten Kirche Schweiz (EKS) «10 Fragen – 10 Antworten» gegeben, doch das ist für Wiesmann zwar «akademisch differenziert, aber nicht laut genug für den öffentlichen Diskurs». «Wir müssen schon mit einer anderen Lautstärke kommunzieren, um als Kirche gehört zu werden», sagt Michael Wiesmann.

Seelsorgeliche Wirkung
Die Erklärung haben derweil zahlreiche Pfarrpersonen, Kirchenmitarbeitende und -mitglieder unterschrieben; dennoch ist die ganz grosse Welle ausgeblieben. Wiesmann sieht aber auch eine seelsorgerliche Wirkung, welche die Erklärung habe: «Wir erhielten viele, feine Dankeschöns.»
Für Bergauer war es wichtig, als angehender Theologe Posi­tion zu beziehen. Die Diskussion um die «Systemrelevanz» von Gottesdiensten hat er als unangemessen empfunden. Die Kirche solle sich mehr auf ihren Grundauftrag, nämlich die Nächstenliebe im Sinne des Schutzes der Schwachen besinnen und öffentlich anprangern, dass Menschen aufgrund einer falschen Corona-Politik sterben. «Stattdessen werden kirchlicherseits Ausnahmen eingefordert oder es wird Desinteresse gezeigt», sagt Jan Bergauer.

rootedinlove.ch

Der "Schweizer Weg steht in der Kritik"

Die Corona-Politik der Schweiz ist in den vergangenen Wochen immer stärker in die Kritik geraten. Anders als Nachbarländer wie Deutschland oder Frankreich hat sich das Land lange vor einem Lockdown gescheut hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen. Der sogenannte «Schweizer Weg» erntet Unverständnis  bei den Unispitälern des Landes und anderen gesellschaftlichen Gruppen. Nach Stand (17.12.2020) hat das Land 5256 Neuinfektionen und 89 Todesfälle pro Tag. Bis jetzt sind in der Schweiz 6382 Menschen der Pandemie zum Opfer gefallen. Das Land hat in der «2. Welle» mit die höchsten Zahlen an Neuinfektionen in Europa.