Schwerpunkt 19. März 2018, von Delf Bucher

Politische Avantgarde in Gottes Namen

Zeitgeschichte

Die 1968er -Bewegung machte ncht vor den Kirchentüren Halt. Globuskrawall, King-Attentat und ausgegrenzte Saisonniers bewegten auch in Zürich die Kirche.

Hinter einer schweren Tür zum Atombunker für 97 Personen stehen Dutzende von Bundesordnern in den Regalen. Hier befindet sich das papierne Gedächtnis der Tagungsstätte Boldern. Das lebendige Gedächtnis des kirchlichen Studienzentrums ist Patrice de Mestral. Von 1965 bis 1979 war er theolo­gischer Studienleiter auf Boldern. Der 84-jährige Pfarrer läuft durch die Aktenregale und greift schnurstracks den Ordner der Boldernberichte aus dem Jahre 1968.

Ein Gespür für Junge

Gleich die erste zufällig aufgeschlagene Seite offenbart Programma­ti­sches. Die Studienleiterin und spä­tere Direktorin auf der Boldern, Marga Bührig, streitbare Vorkämpferin für Frauenrechte, zitiert Margaret Mead. Die berühmte Anthropologin sagte bei der Weltkonfe­renz des Ökumenischen Weltkirchenrats (ÖRK) in Uppsala, die wie kaum eine andere Konferenz für die kirchlichen Auf- und Umbrüche der 1960er und 1970er Jahre steht: «Wir, die ältere Generation sind Ein­wanderer in eine neue Gesellschaft. Die Jugend hat Erfahrungen, die wir nie gemacht haben und nie machen wer­den.»

Den Kontakt zur Jugend zu suchen, das war Boldern wichtig. Hier sollten nicht nur die Konfirmandinnen und Konfirmanden ihre Freizeit verbringen. Lebens- und sexualkundliche Kurse für Lehrlinge oder Tagungen zur Kriegsdienstverweigerungen zeigten: Boldern hatte ein Gespür, für das, was die Jungen bewegte.

Nach dem «Globus-Krawall»

Einige Seiten weiter in den Boldernberichten wirbt Paul Frehner um Verständnis für die aufbegehrende Jugend. Mit fünf Pfarrern und zwei Theologieprofessoren gehörte er zu den Erstunterzeichnern des «Zürcher Manifests», welches von Künstlern und Schriftstellern, darunter auch Max Frisch, im Nachgang zu den Zürcher Krawallen unterzeichnet wurde.

Zur Erinnerung: Die Zürcher Jugend beherrschte 1968 schweizweit die Schlagzeilen. Die Ouvertüre bot das Konzert mit Jimi Hendrix und das folgende Scharmützel zwischen Pop-Fans und der Polizei. Daran schlossen sich die Demonstrationen für ein Jugendzentrum an, die schliess­lich beim «Globuskrawall» im Juni 1968 in einen Gewaltexzess mündete. Die Unterzeichner und Unterzeichnerinnen des Manifests sahen die Krawalle als eine «Folge unzulänglicher Gesellschaftsstrukturen» und kritisierten «die Unbeweglichkeit unserer Institutionen».

Zuwendung zur Welt

Schon bei der Autofahrt von Männedorf hoch zur Tagungsstätte hatte Patrice de Mestral gewarnt, 1968 nur durch eine Zürcher Brille zu betrachten. «Das war keine lokale Angelegenheit. Das hatte eine prägende Vorgeschichte.» Damals hätte sich die Kirche international vernetzt und der Welt zugewendet. Und dann zitiert er das Bonhoeffer-Wort: «Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.»

Schlüsselfigur King

Als ein herausragendes Schlüssel-ereignis nennt der Theologe die Konferenz des ÖRK 1966 in Genf mit dem Thema «Kirche und Gesellschaft». Damals sei über die Theologie der Revolution diskutiert worden, aber auch über die gewaltlosen Aktionen der US-Bürgerrechtsbewegungen. Beim Abschlussgottesdienst in Genf hallten Merksätze der politischen Theologie durch die Kathedrale St-Pierre: «Die Kirche muss sich daran erinnern, dass sie nicht Herr oder Diener des Staates ist, sondern vielmehr das Gewissen des Staates. Sie muss Wegweiser und Kritiker des Staates sein und niemals sein Werkzeug.» Die Kanzel war leer. Die Stimme gehörte dem schwarzen Bürgerrechtler mit dem programmatischen Vornamen des deutschen Reformators Martin Luther und wurde vom Tonband gesprochen. Blutige Zusammenstösse zwischen schwarzen Jugendlichen und der Polizei in Chicago hinderten King, nach Genf zu kommen.

Kirche sollte das Gewissen des Staates sein, sollte intervenieren, und Boldern lieferte dazu das Agenda-Setting. Hier standen etwa Ehescheidung, Bodenreform und betriebliche Mitbestimmung auf dem Programm. Und natürlich exponierte sich das kirchliche Bildungshaus für die Rechte der Frauen und führte später auch Tagungen für Lesben und Schwule durch. Ein weiterer Schwer­punkt war die Gastarbeiterfrage.

Die Debatten von Boldern fanden oft ihren Niederschlag in dem «Kirchenboten», der damals von Hans Heinrich Brunner geleitet wurde. Einmal verglich der Vorgänger von «reformiert.» die soziale Lage der Gastarbeiter mit der Rassendiskriminierung in den USA und titelte: «Italiener – unsere Neger». Em­pört schrieb ein Leser: «Wenn einer uns einreden will, wir vergehen uns an diesen Italienern wie die Amerikaner an den Negern, so ist das nichts anderes als eine Beleidigung unseres Volkes.»

Marxistische Schaltzentrale

Mit einem amüsierten Lächeln erzählt de Mestral, wie nach einer Tagung über Konflikt- und Friedensforschung die Zürichsee-Zeitung zum Tagungsbericht titelte: «Boldern – neomarxistische Schaltzentrale». Solche Artikel schreckten die Kirchenpflegen auf, die sich eine unpolitische Kirche wünschten. Patrice de Mestral konterte gegenüber den Boldernkritikern unaufhörlich mit der Zürcher Kirchenordnung von 1967. Noch heute zitiert er den Artikel aus dem Kopf: «Die Kirche leitet ihre Glieder an, sich mit Fragen von Frieden und Gerechtigkeit auseinanderzusetzen.»

Das 68er-Erbe heute

Was ist von 1968 aus der Sicht der Kirchen geblieben? Eine gut hör­bare Minderheit innerhalb der Kirche hat sich seither in der Schweiz das Credo Martin Luther Kings, das politische Gewissen der Gesellschaft zu sein, auf die Fahnen geschrieben. Das Politische ist nie mehr aus der Kirche verschwunden. Aber die Kirche kann sich in einer sich immer stärker säkularisierenden Gesellschaft nicht im gleichen Masse wie früher in poli­tischen Debatten Gehör verschaffen. Anschaulich zeigt sich dies in der Flüchtlingspolitik. Bei Vorlagen, die das Asylrecht verschärfen, dringt die kirchliche Stimme kaum mehr durch.

Patrice de Mestral, dessen wache Augen in seinem faltenreichen Gesicht immer dann aufblitzen, wenn er über die Aufbrüche Ende 1960er Jahre spricht, gibt zu: «Wir glaubten, die Avantgarde zu sein. Aber gesellschaftlich wurden wir immer mehr zu deren Nachhut.»