Über Jutesäcke zur gerechten Drittweltpolitik

Entwicklungspolitik

1968 war so etwas wie der Take-off für die Entwicklungszusammenarbeit. Die Erklärung von Bern, initiiert von reformierten Theologen, wirks bis heute nach.

Schon am ersten Unitag im Mai 1968 heisst es für den akademischen Späteinsteiger Rudolf Strahm: Streik! Teach-in! Bereits im Sommer reist er mit einem universitären Austauschprogramm nach Tunis. Das Thema Dritte Welt wird ihn nicht mehr loslassen. Strahm gehört zu den ersten Mitstreitern der Erklärung von Bern (EvB), heute «Public Eye». Der protestantische, aktionserprobte Achtundsechziger aus dem alttäuferischen Milieu des Emmentals schaffte es vor allem mit einem neuen Stil der Öffentlichkeitsarbeit, die ungerechten Beziehungen zwischen der Schweiz und dem Süden auszuleuchten. Eine Aktion warbesonders schlagzeilenträchtig: Strahm und die Gruppe «Dritte Welt Bern» veröffentlichten eine englische Studie, welche die aggressive Werbung von Nestlé für ihre künstliche Babymilch in Entwicklungsländern anprangerte.

Der Heilige Geist wirkt

Der provokative Titel «Nestlé tötet Babys» brachte die Advokaten des Konzerns in Vevey auf Trab. In einem weltweit beachteten Prozess 1974 standen Strahm und zehn Mitstreiter im Rampenlicht. Der «junge Wilde» sorgte auch für Aufsehen bei der Konferenz «Schweiz-Dritte Welt» 1970 im Nationalratssaal. Als Strahm dort zum Hungerstreik aufrief, wollte selbst der damalige Nestlé-Chef nicht mehr im noblen «Schweizerhof» das Mittagessen einnehmen, erinnert sich Hans Ruh, der Organisator der Konferenz. Verschmitzt fügt er an: «Das ist die Kraft des Heiligen Geistes.» Für die Vorbereitung der Konferenz mit Schweizer Parlamentariern, Drittwelt-Aktivisten, Unternehmern und Gästen aus dem Süden war Ruh als kirchlicher Mitarbeiter des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds für ein Jahr freigestellt worden.

Tiefer Bewusstseinswandel

Ruh, später Ethikprofessor an der Universität Zürich, streicht heraus: «Die Sechziger-, Siebzigerjahre waren eine unglaubliche Zeit: Die Kirchen konnten damals in vielen Bereichen die Themenführerschaftübernehmen.» Eigentlich ist Ruh ein Mann der pragmatischen Kompromisse. Aber im Reizklima von 1968 empörte sich so mancher Bernburger über seine Gastpredigt im Münster: «Solange es in Indien kein Mittagsmahl gibt, gibt es in Bern kein Abendmahl.» Der Satz handelte ihm ein Predigtverbot ein.

Der Drittwelt-Aufbruch ist nicht direkt aus der studentischen 68er-Bewegung entstanden. Vieles lief parallel. Darauf weist auch Anne-Marie Holenstein, die erste Sekretärin der EvB, hin. «Doch beide Bewegungen gründeten auf dem tiefgreifenden gesellschaftlichen Bewusstseinswandel, der in dieser Zeit stattgefunden hat.»

In der Presse wurde bei der Lancierung der EvB vor allem die Verpflichtung der Mitglieder, eins bis drei Prozent des Einkommens für Drittweltprojekte zu spenden, hervorgehoben. «Unser Hauptanliegen war es aber, dass zur Gerechtigkeit vor allem der Blick auf politische Zusammenhänge gehört», sagt Holenstein. Von einer Reise brachte sie eine geniale Aktionsidee mit: die Einkaufstasche «Jute statt Plas­tic.» Sie verknüpfte ideal eine ökologische Botschaft mit den Anliegen der Länder des Südens. Zuvor hatten die Aktivisten der Berner Arbeitsgruppe Pulverkaffee «Ujamaa» aus Tansania importiert und an Ständen und in Kirchen verkauft. Tapfer habe man den bitteren Trank zu sich genommen, «er schmeckte nicht gut, dafür war er gerecht», erinnert sich Anne-Marie Holenstein.

Fairer Handel etabliert

Die Pionierprodukte beflügelten den gerechten Handel. Weltläden entstanden, 1992 wurde die Max-Havelaar-Stiftung gegründet. «Innerhalb der Weltwirtschaft bleibt der faire Handel aber ein Zwerg», sagt Holenstein. Dennoch: In derSchweiz lag der Umsatz 2016 vier Mal höher als in Deutschland.

Die Drittwelt-Bewegten von 1968 hinterliessen auch markante Spuren in der Entwicklungspoli­tik. Im Revoltenjahr 1968 verdoppelte der Bund sein Engagement für die Entwicklungshilfe auf 103 Millionen. Heute sind es 3,4 Milliarden Franken. Dem 1968 von der EvB deklarierten Ziel, 0,7 Prozent des Bruttoinlandproduktes für Entwicklungszusammenarbeit bereitzustellen, ist man näher gekommen.