Schwerpunkt 07. September 2017, von Christiane Tietz

Was ist das Jüngste Gericht?

Theologie

Christentum ist mehr als Wohlfühlspiritualität. Theologieprofessorin Christiane Tietz erklärt das Jüngste Gericht.

Heulen, Zähneklappern, Angstmacherei vor einem gnadenlosen Gott, Kleinhalten der Gläubigen durch die kirchliche Hierarchie: darum scheint es beim Jüngsten Gericht zu gehen. Doch was von gotischen Kirchenportalen herunter schreckt, war ursprünglich tröstlich gemeint. Dass Gott kommt, um zu richten, ist für den alttestamentlichen Psalmisten Grund zur Freude: «Die Ströme sollen in die Hände klatschen (…), denn er kommt, um die Erde zu richten; er richtet den Erdkreis in Gerechtigkeit und die Völker nach dem Recht» (Psalm 98,8f).

An der Seite der Schwachen. Unrecht und Böses haben keinen Bestand. Gott setzt das Recht durch, auch und gerade für diejenigen, die dies aus eigener Kraft nicht vermögen. Gottes Gericht ist sein Erbarmen über die Unterdrückten (Ex 22,20-26). Es vollzieht sich in geschichtlichen Ereignissen, laut späten alttestamentlichen Texten am Ende der Zeit.

Auch in Jesu von Nazareth Verkündigung gibt es ein endzeitliches Gericht, wenngleich nicht so zentral wie bei Johannes dem Täufer. Kern von Jesu Botschaft ist die Nähe des Reiches Gottes in seiner Person (Mk 1,15). Gott begegnet in Jesus allen Menschen gnädig.

Das Gericht Gottes wird denjenigen treffen, der diese Gnade abweist (Mk 10,15) und Gottes Willen nicht gehorsam ist (Mt 12,36f.). Nur wer Jesu Botschaft konsequent folgt, wird im Gericht bestehen (Mt 25,31-46). Für Paulus rettet einzig der Glaube an die Gnade Gottes, die uns in Jesus Christus begegnet (Röm 8,32-34). Weil aber zum Glauben gutes Tun gehört, werden die Werke der Christen im Gericht geprüft, belohnt oder bestraft werden (Röm 2,6). Einen eigenen Akzent setzt das Johannesevangelium: Derjenige, der glaubt, kommt nicht mehr ins Ge­richt, wogegen der, welcher nicht glaubt, schon jetzt gerichtet ist (Joh 3,18).

Gott ist die Welt nicht egal. Die Reformatoren halten am Jüngsten Gericht fest, trotz seiner bedrohlichen Gestalt im Spätmittelalter. Zwingli wie Calvin sind vom «doppelten Ausgang» des Gerichtes überzeugt: Die Glaubenden gehen in die ewige Seligkeit ein, die Nicht-Glaubenden in die Verdammnis. Gegen die Angst vor dem Gericht hilft das glaubende Vertrauen: «Das bereitet uns eine herrliche Zuversicht, dass wir vor keinen anderen Richtstuhl gestellt werden als den unseres Erlösers», schreibt Johannes Calvin.

Heute will man gern auf das Jüngste Gericht verzichten. Der Glaube an Gott soll unser Leben nicht stören, sondern uns nur dessen versichern, dass wir gut so sind, wie wir sind. «Du bist ok, ich bin ok», erscheint als Quintessenz des Christentums. Ja, jede Funktionalisierung des Gerichts, um Menschen zu drohen, ist falsch. Glaube und gutes Handeln sind aus evangelischer Sicht Antwort auf Got­tes Gnade, nicht ihre Voraussetzung. Aber dass es dieser Antwort bedarf, das schärft der Gerichtsgedanke ein. Auch zeigt er, dass Gott dem Weltenlauf nicht gleichgültig gegenübersteht, sondern sich für Recht und Unrecht interessiert.

Das Urteil des Erlösers. Jeder Mensch wird sich im Gericht so sehen, wie er wirklich ist. Jede Lebenslüge wird verblassen. Das wird «schmerzhaft befreiend» (Gerhard Sauter). Denn das Gericht «legt die Traumata frei und führt mit den Opfern auch die Täter, gerade indem es ihre wohlverdiente Schande offenbart, der Heilung entgegen. Das jüngste Gericht ist das therapeutische Ereignis schlechthin» (Eberhard Jüngel).

Für das christliche Verständnis grundlegend ist, dass Jesus Christus, also der, in dem uns Gottes Gnade begegnet, rich­ten wird. Dann wird jeder Mensch der Gnade Gottes unverstellt ansichtig werden und erkennen, wo er aus sich selbst heraus hat leben wollen und wo er anderen einen gnädigen Umgang verweigert hat. Diese Erfahrung der Gnade wird sein Herz weitmachen, so weit, dass er selbst vergeben kann.

Christiane Tietz (50)

Die Professorin für Systematische Theologie an der Universität Zürich leitet das Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie. Bevor sie 2013 nach Zürich wechselte, war sie fünf Jahre Professorin für Systematische Theologie und Sozial­ethik in Mainz.