Recherche 25. Januar 2024, von Cornelia Krause

Erwachsenwerden in Zeiten des Krieges

Kino

Der Animationsfilm «Die Sirene» der iranischen Regisseurin Sepideh Farsi erzählt in mitreissenden Bildern eine Coming-of-Age-Story im Ersten Golfkrieg. 

Der Fussball fliegt auf den Torhüter Omid zu, doch der 14-Jährige wird ihn nicht fangen, denn am blauen Himmel über sich sieht er irakische Kampfflugzeuge. Sie bombardieren die nahe gelegene Ölraffinerie. Die Szene gleich zu Beginn des Films «Die Sirene» schafft in kürzester Zeit den Kontext: Die unbeschwerte Kindheit Omids ist vorbei, der Iran befindet sich im Krieg, und die Hafenstadt Abadan ist ein kriegsversehrter Ort geworden, den fast alle verlassen – auch Omids Mutter und seine jüngeren Geschwister. Omid selbst aber bleibt und muss sich entscheiden: Kämpft er wie sein älterer Bruder oder kann er sich anderweitig nützlich machen in dieser gefährliche Lage?

Mit «Die Sirene» präsentiert die iranische Regisseurin Sepideh Farsi erstmals einen Animationsfilm. Weltpremiere war im letzten Jahr an der Berlinale, nun kommt er in die Schweizer Kinos. Im Iran lebt Farsi inzwischen seit 40 Jahren nicht mehr, stattdessen im Exil in Frankreich. Immer wieder behandelte sie in ihren Filmen den Widerstand der iranischen Gesellschaft, zuletzt dokumentierte sie in «Daughters of Iran» die Frauenproteste aus Zusammenschnitten von Handyvideos aus dem Netz.

Nun widmet sie sich einem historischen Stoff: dem Ersten Golfkrieg, den der Irak 1980 gegen den Iran begann und der zur verheerenden achtjährigen Schlacht für beide Parteien wurde. Rund eine Million Menschen verloren ihr Leben. «Dieser Krieg hat die gesamte Region verändert, und er wirkt bis heute nach, nicht nur im Iran und im Irak», sagt Farsi im Gespräch mit «reformiert.».

Tatsächlich zeigt der Film auch viel über den heutigen Iran. Die Zeit vor der Revolution lässt sich 1980 zwar noch erahnen, doch der Grundstein für ein restriktives, religiöses Regime ist gelegt. Kopftücher sind für Frauen Pflicht, Alkohol ist verboten. In diesem Umfeld wird der Protagonist Omid erwachsen. Er leistet schliesslich Widerstand, indem er Menschen mit Essen beliefert, die wie er in Abadan ausharren. Dabei trifft er auf unterschiedlichste Persönlichkeiten: einen Ingenieur, der am Bau der grossen Ölraffinerie der Stadt beteiligt war; eine berühmte Sängerin, die seit der Revolution ihren Beruf nicht mehr ausüben darf und in deren Tochter sich Omid verliebt; und auf die Priester der armenisch-gregorianischen Kirche, die ihr Gotteshaus und das Marienbild nicht verlassen wollen.

Eine vielschichtige Gesellschaft

Sie habe gezielt «die Vielschichtigkeit der iranischen Gesellschaft aufzeigen wollen», sagt Farsi. Abadan sei früher vergleichsweise international und offen gewesen – durch die armenische Community, aber auch die Ölindustrie, die viele Ausländer ins Land brachte. Mit kräftigen Rot- und Blautönen und einem minimalistischen Animationsstil erschafft der Film mitreissende Bilder, die auch die Brutalität des Krieges gekonnt einfangen.

Die Coming-of-Age-Geschichte entwickelt sich zu einer spannenden Parabel über die Kraft des Zusammenhalts, in der schlussendlich ein religiöses Motiv relevant wird: die Arche Noah, eine Erzählung, welche die Thora, die Bibel und den Koran verbindet.

Sepideh Farsi: Die Sirene. First Hand Films, 2023, Kinostart: 1. Februar