Derzeit ist die geopolitische Lage angespannt wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr, und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat auch in der neutralen Schweiz zu einem Umdenken geführt: Aufrüstung und Verteidigung rücken vermehrt in den Fokus der Politik. Auf die Stimmung in der Armee wirken sich auch die Diskussionen über den Krieg in der Ukraine und über die Zukunft der Nato aus. Armeeseelsorgende stellen einen Wandel fest, in Gesprächen, Begegnungen und einem neuen Ton.
Christian Scharpf, reformierter Pfarrer in Wädenswil, leistet freiwillig Militärdienst als Armeeseelsorger im Rettungsbataillon 4. Die Vorstellung, dass dieses im Verteidigungsfall zum Einsatz gelangen könnte, sei nun keine theoretische mehr. «Früher hielten wir das für ausgeschlossen. Heute spüren wir, dass die Sicherheit in Europa fragil geworden ist», sagt er.
Scharpf beobachtet eine Veränderung in der Haltung der Soldatinnen und Soldaten. Anders als früher zweifelten diese kaum mehr am Sinn des Dienstes. Die ernstere Stimmung spiegle sich auch in Unterhaltungen wider, beim Essen oder im Ausgang. Scharpf begleitet im Bataillon Angehörige auf allen Stufen vom Soldaten bis zum Oberstleutnant. Mit 45 Jahren ist er der Älteste im Bataillon.
Armeeangehörige suchen in unsicheren Zeiten Halt
Die aktuelle geopolitische Lage spiegelt sich in der Arbeit der Armeeseelsorgenden wider. Sie bemerken eine ernsthaftere Auseinandersetzung der Soldaten mit ihrer Rolle.
Übungen für einen Ernstfall: Schweizer Soldaten in Deckung. (Foto: VBS/DDPS, Linus Spitz)

Zahlreiche Debatten
Mit Blick auf Verteidigung standen in den letzten Monaten verschiedene Themen auf der politischen Agenda: Im Dezember wurde das Armeebudget erhöht, die Verteidigungsbereitschaft soll gestärkt werden. Auch die Rückkehr zur Gewissensprüfung für Zivildienstleistende wird diskutiert. Dazu reichte die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats im Januar ein Postulat ein. Die Gewissensprüfung ist seit 2009 abgeschafft, auch der damalige Schweizerische Evangelische Kirchenbund hatte sich gegen eine solche Prüfung ausgesprochen. Die Nachfrage nach Zivildienst bleibt hoch: 2024 stellten 6799 Personen ein Gesuch – über die Hälfte vor der Rekrutenschule.
Einsätze verdoppelt
Fabian Kuhn, Pfarrer im Unteren Toggenburg (SG) und langjähriger Armeeseelsorger in der Infanterie-Rekrutenschule Gossau, spürt die veränderte geopolitische Lage konkret in der Zahl von Anfragen. «Die Armeeseelsorge ist gefragt wie noch nie», sagt Kuhn. Verglichen mit der Zeit vor zehn Jahren habe er derzeit doppelt so viele Kontakte mit Rekruten. Als Auslöser sieht er den Ukraine-Krieg, und in den letzten Monaten habe sich diese Dynamik gar noch verstärkt.
Neben klassischen Seelsorgethemen – wie psychischen Problemen oder dem Hadern mit dem neuen Umfeld – thematisierten Rekrutinnen und Rekruten vermehrt die Politik. Kuhn beobachtet eine Polarisierung. «Es kommen aktuell mehr Rekrutinnen und Rekruten auf mich zu, die sagen: ‹Helfen Sie mir die RS durchziehen, ich will das schaffen, denn ich sehe darin einen Sinn.›» Gleichzeitig spricht der Pfarrer vermehrt mit Jungen, die sich mit dem Dienst an der Waffe schwertun. Mehr als früher sei manchen bewusst, dass sie im Kriegsfall womöglich töten müssten. «Sie sagen mir dann: ‹Eigentlich will ich doch Leben retten und nicht zerstören.›»
Die Erfahrungen der Seelsorgenden sind indessen unterschiedlich. Bei Laurent Lasserre etwa, Armeeseelsorger in der Westschweiz, ist die zu Beginn des Ukraine-Kriegs stark erhöhte Anzahl der Beratungen wieder zurückgegangen. Er ist in Chamblon eingesetzt, seit 14 Jahren betreut er Rekrutinnen und Rekruten. Allerdings setzten sich die Jungen nun ernsthafter mit ihrem Dienst auseinander, sagt er. «Auch wenn viele davon ausgehen, dass es in der Schweiz friedlich bleibt.»
Landesweite Zahlen zu den Einsätzen gibt es nicht. Doch auch Samuel Schmid, Chef Armeeseelsorge, sieht die Nachfrage tendenziell steigen. Neben der Tatsache, dass Soldaten offener gegenüber Seelsorge seien als früher, habe die Corona-Pandemie gezeigt, dass in Zeiten der Unsicherheit existenzielle Fragen vermehrt gestellt würden. «Das sehen wir auch jetzt wieder.»
Tatsächlich war die Pandemie der Anlass dafür, dass die Zahl der Armeeseelsorgenden von 171 auf 242 erhöht wird. Seit 2022 ist die Armeeseelsorge zudem interreligiös unterwegs. Mit Blick auf die angespannte geopolitische Lage komme dieser Personalaufbau «gerade zum richtigen Zeitpunkt». Die Ausbildung wird nun jedes Jahr statt alle zwei Jahre angeboten und dauert länger, um den steigenden Ansprüchen gerecht zu werden.
Vorbereitung auf den Ernstfall
Für Schmid ist die Armeeseelsorge nicht nur kirchlicher Dienst, sondern auch geistliche Chance. «Wir können dienstleistende Männer und Frauen zwischen 20 und 30 Jahren erreichen, mit denen wir sonst kaum in Berührung kommen.» Das sei aufsuchende Seelsorge – und womöglich genau das, was die Kirche heute wieder mehr sein sollte: «ein Stück Salz und Licht in einer verunsicherten Welt».
Bei alledem macht Schmid deutlich: «Wir begleiten Menschen, die im Extremfall selbst töten müssen oder getötet werden könnten. Dem muss die Ausbildung Rechnung tragen.» Neu wird etwa auch Militärethik behandelt. Und seit 2022 müssen die Seelsorgenden bekräftigen, dass sie auch unter Einsatz ihres Lebens dienen würden. «Diese Frage hätte vor 20 Jahren Stirnrunzeln ausgelöst», sagt der oberste Armeeseelsorger. Doch heute sei ein solches Szenario realistisch.