Aufwachsen im Schatten der alkoholsüchtigen Eltern

Sucht

Ist ein Elternteil akoholabhängig, sind Kinder einsam der Situation ausgeliefert. Erst als Erwachsene können manche darüber sprechen und sich Hilfe holen – wie Kathrin.

Im Sommer 2022 spürte Kathrin, dass es in ihrem Leben nicht mehr so weitergehen konnte. Seit zehn Jahren war sie Single und datete Männer, die keine feste Beziehung wollten. Einerseits fand sie das in Ordnung so, denn selbst blieb Kathrin auch lieber auf Distanz. Andererseits sehnte sie sich nach einem Partner, an den sie sich auch mal anlehnen und dem sie offen ihre Bedürfnisse zeigen konnte, anstatt sich ständig nach dem zu richten, was dem anderen gefallen könnte. 

In jenem Sommer klickte sie die Website des Blauen Kreuzes Zürich an und füllte die Anmeldung für einen Kurs für erwachsene Kinder von alkoholabhängigen Eltern aus. Sie wusste: Wenn sie aus ihrem Beziehungsmuster ausbrechen wollte, musste sie ihre Kindheit aufarbeiten. Diese prägende Phase ihres Lebens, in der sich ihre Eltern in ihrer Erinnerung viel stritten und es auch zu Gewalt kam. Und in der ihr Vater abends nach der Arbeit immer eine Flasche Rotwein leerte. Waren sie bei Freunden zu Besuch, war er oft so betrunken, dass Kathrin sich für ihn schämte.

Vater war unberechenbar

Jetzt sitzt Kathrin, heute 45, zwischen lauter jungen Familien an einem Tisch in einem Zürcher Café und erzählt von den langen Schatten ihrer Kindheit. Die gepflegte Frau im grünen Pulli heisst eigentlich anders. Sie will nicht erkannt werden, vor allem nicht von ihrer Familie. Ihr Bruder ist wie sie selbst in einer Therapie, der Vater trinkt noch immer, die Mutter hat ihm kürzlich gedroht, ihn zu verlassen – ein Schritt, den sich Kathrin vor Jahrzehnten gewünscht hatte. 

Sie erzählt: «Mein Bruder und ich wuchsen in einer belastenden Atmosphäre auf. Mein Vater war unberechenbar, in einem Moment herzlich, dann plötzlich aggressiv.» Sie vermutet bei ihm eine Persönlichkeitsstörung, die durch den Alkohol verstärkt wurde. Die Verantwortung für das dysfunktionale Familienleben schiebt sie aber nicht allein ihm zu. Ihre Mutter sei auch eine schwierige Person. Kathrin nimmt ihr übel, dass sie nichts unternahm, um die toxische Beziehung zu ihrem Mann zu beenden. 

Ich habe in meiner Verzweiflung immer wieder mal gebrüllt, dass Vater ein Alkoholiker ist. Aber das bewirkte nichts. Meine Mutter sagte, das sei seine Sache. Er schwieg.
Kathrin

Während sie spricht, ist immer wieder spürbar, wie hilflos sie der Situation ausgeliefert war. «Ich habe in meiner Verzweiflung immer wieder mal gebrüllt, dass Vater ein Alkoholiker ist. Aber das bewirkte nichts. Meine Mutter sagte, das sei seine Sache. Und er schwieg.» 

Um sich zu schützen, zog sich Kathrin innerlich zurück. Ständig war sie auf der Hut, den Vater nicht zu provozieren. Sie fühlte sich einsam und überfordert. Gleichzeitig kannte sie nichts anderes. Das war ihre Normalität. Einmal erzählte sie ihrer Tante davon. Diese sei aber nicht gross darauf eingegangen. 

In der Gruppe findet sie Trost und Mut

Als sie im Herbst 2022 zum ersten Kursabend des Blauen Kreuzes Zürich geht, lernt sie lauter Menschen kennen, die dieses schlimme Gefühl kennen: total machtlos zu sein angesichts einer unkontrollierbaren Situation und dennoch stets zu glauben, für das Verhalten der Mutter oder des Vaters verantwortlich zu sein. Sie erinnert sich: «Wir hatten alle Unterschiedliches mit den Eltern erlebt, aber diese Erfahrung verband uns stark.» Die Gespräche in der Gruppe trösten sie, ermutigen sie, versöhnen sie erstmals etwas mit ihrer Kindheit. Als der Kurs vorbei ist, geht sie bei der Leiterin in die Einzelberatung, denn sie spürt, dass ihr Verarbeitungsprozess noch längst nicht abgeschlossen ist. 

Lernen, für sich selbst zu sorgen und Grenzen zu setzen

Antje Mohn, die seit rund 17 Jahren beim Blauen Kreuz Zürich arbeitet und den Kurs ins Leben rief, sagt, sie sei immer wieder tief berührt, wenn die Kursteilnehmer einander ihre Geschichten erzählen. «Viele litten lange Jahre unter Orientierungslosigkeit und Überforderung und sprachen mit niemandem darüber.» 

Im Kurs und in den Beratungen, welche die meisten danach besuchen, lernten sie, darüber zu reden, ihre Stärken zu erkennen, Verletzungen zu verarbeiten und Strategien für sich selbst zu entwickeln. «Wir können nicht das Alkoholproblem ihrer Eltern lösen, aber sie dabei unterstützen, für sich selbst zu sorgen und Grenzen zu setzen», so Mohn. Das sei oft ein langer Prozess. «Aber ich sitze immer wieder einer Klientin oder einem Klienten gegenüber und denke: Wow, dieser Mensch hat eine ganz andere Ausstrahlung als vor zwei Jahren.» 

Ich sitze immer wieder einer Klientin oder einem Klienten gegenüber und denke: Wow, dieser Mensch hat eine ganz andere Ausstrahlung als vor zwei Jahren.
Antje Mohn, Suchtberaterin Blaues Kreuz

Familiengeschichte akzeptiert

Auch Kathrin geht es viel besser. Seit anderthalb Jahren ist sie mit einem Mann zusammen, bei dem sie sich frei fühlt und nicht andauernd überlegt, wie sie sich idealerweise verhalten muss. Und ein ganz wichtiger Schritt ist für sie: «Ich habe akzeptieren gelernt, dass dies nun mal die Familie ist, die ich habe und die sich nie grundlegend ändern wird.» 

Den Kontakt, den sie zu ihrem Vater abgebrochen hatte, hat sie wieder aufgenommen. Sie denkt sogar daran, mit ihm einmal über alles zu sprechen.

Kurs für erwachsene Kinder suchtbetroffener Eltern

Der nächste Kurs für erwachsene Kinder alkoholabhängiger Eltern beginnt am 23. April, 17.30–19 Uhr, beim Blauen Kreuz Aarau. Er dauert fünf Mittwochabende. Infos und Anmeldung: